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Die Philosophie des Zorns

Die Philosophie des Zorns – Agnes Callard

 

„Es gibt zwei Probleme mit Zorn: Er ist moralisch verderblich und völlig berechtigt.“ –  Agnes Callard

Angenommen, Sie sind am Dienstag zornig, weil ich Sie am Montag bestohlen habe. Angenommen, am Mittwoch ich gebe alles zurück, was ich gestohlen habe. Ich entschädige Sie für alle Nachteile, die in den zwei Tagen durch Ihren Verlust entstanden sind. Ich biete zusätzliche Geschenke an, um meinen guten Willen zu zeigen. Ich entschuldige meinen Diebstahl als Augenblick der Schwäche; und schließlich verspreche ich, es nie wieder zu tun. Angenommen, Sie glauben, dass meine Entschuldigung aufrichtig ist und ich mein Versprechen einhalten werde.

Könnte es für Sie vernünftig sein, am Donnerstag noch genauso zornig zu sein wie am Dienstag? Könnte es darüber hinaus vernünftig sein, sich einen Plan auszudenken, um nunmehr mich zu bestehlen? Und was, wenn Sie es nicht bei einem Diebstahl bewenden lassen: Könnte es für Sie vernünftig sein, mich immer wieder zu bestehlen?

Obwohl anfänglicher Zorn vernünftig sein mag, neigen wir dazu, endlose unverhältnismäßige Rache als grundsätzlich irrational anzusehen.

Obwohl Ihre anfänglicher Zorn vernünftig gewesen sein mag, neigen wir dazu, endlose unverhältnismäßige Rache als grundsätzlich vernunftwidrig anzusehen. ‚Irgendwann sollten wir darüber hinwegkommen…‘, wird uns gesagt, oder: ‚wir sollten loslassen oder unseren Wunsch nach Vergeltung in ein gesünderes oder ehrbareres Gefühl verwandeln‘.

Diese Idee hat unter akademischen Philosophen eine Debatte über die Beurteilung von Zorn ausgelöst. Sollten wir ihn als gerechte Empörung schätzen? Oder sollten wir ihn als unendliche nachtragende Vergeltungssucht verurteilen?

Ich werde nachzeichnen, wie diese Debatte verläuft, aber ich werde nicht versuchen, sie zu aufzulösen. Stattdessen werde ich aufdecken, welches Geheimnis hinter ihr verborgen ist:  die Debatte verfehlt ihr wahres Thema. Die eigentliche Debatte betrifft die drei Fragen zu Ärger und Rationalität im zweiten Abschnitt, die keineswegs rhetorisch sind, und auf die eine Antwort durchaus jedes Mal „ja“ lauten könnte.


Erstens die akademische Frage. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die glauben, wir hätten eine moralisch bessere Welt, wenn wir den Zorn vollständig beseitigen könnten. Diese Tradition hat ihre Wurzeln im alten Stoizismus und Buddhismus. Der römische Philosoph und Staatsmann Seneca aus dem ersten Jahrhundert schrieb, Zorn sei eine Form des Wahnsinns. Er verfasste eine ganze Abhandlung – De Ira – darüber, wie man mit seinen negativen Auswirkungen umgeht. Der indische Philosoph und Mönch Śāntideva aus dem 8. Jahrhundert beschwor diejenigen, die dem Pfad der der Erleuchtung folgen, auch nur den kleinsten Samen des Zorns zu beseitigen, mit der Begründung, dass sein voll ausgeprägtes Gefühl nur Schaden anrichten könne.

Nussbaum stützt sich auf Seneca und die stoische Tradition, um zu argumentieren, Zorn sei mit einem „Vergeltungswunsch“ verbunden, der rachsüchtig und destruktiv sei.

In der Gegenwart stützt sich die Philosophin Martha Nussbaum auf Seneca und die stoische Tradition, um zu argumentieren, Wut sei eine an sich falsche Haltung, weil sie mit einem rückwärts gerichteten, rachsüchtigen und destruktiven „Vergeltungswunsch“ verbunden sei. Die richtige Reaktion auf Rückschläge oder Ungerechtigkeiten ist, ihrer Ansicht nach, vorwärtsgerichtet: Verhindern, dass ähnliche Ereignisse in der Zukunft wieder eintreten. In ähnlicher Weise sieht Owen Flanagan, der sich sowohl auf den Buddhismus von Śāntideva, als auch auf eine konfuzianisch geprägte Metaphysik stützt, den Zorn als eine an sich feindselige Haltung, die fälschlicherweise auf ich-bezogene Grundeinstellungen von Individuen aufsetzt, die „die Absicht haben, grausam zu sein,  Schaden zuzufügen oder Böses zu tun. „Auf der anderen Seite der Debatte stehen diejenigen, die Wut – bis zu einem gewissen Punkt – als wesentlichen und wertvollen Teil des eigenen moralischen Repertoires betrachten: Wut sensibilisiere uns für Ungerechtigkeit und motiviere uns, Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten. Indem Sie sich am Dienstag, dem Tag nach meinem Diebstahl, über mich ärgern, definieren Sie einen Rahmen und fordern die Bedingungen ein, unter denen ich am Mittwoch einlenken und Wiedergutmachung leisten muss.

Diese Bejahung des Zorns hat ihre Wurzeln in Aristoteles ‚Ansicht, die (gut ausgebildeten) Leidenschaften ermöglichten es dem „Auge der Seele“, moralische Werte wahrzunehmen, und findet seinen vollsten Ausdruck bei den britischen moralischen Sentimentalisten des 17. und 18. Jahrhunderts . Der Earl of Shaftesbury, Frances Hutcheson, David Hume und Adam Smith waren der Meinung, unsere Gefühle seien genau das, was uns für moralische Betrachtungen sensibilisiert.

Später hauchte Peter Strawsons einflussreiche Veröffentlichung „Freedom and Resentment“ (1960) der Billigung von Zorn neues Leben ein, in der er Emotionen zum fundamentalen Mechanismus moralischer Rechenschaftspflicht erklärte. Strawson entwickelt Smiths Einsicht weiter, dass unser Status als moralisches Geschöpf auf der Tatsache beruht, und dass es uns – auf emotionaler Ebene – wichtig ist, was wir voneinander halten. Strawson versteht negative Emotionen in der Zornfamilie als paradigmatischen Ausdruck moralischer Beurteilung. Zorn behandelt seinen Adressaten als jemanden, der erkennen kann, dass er etwas falsch gemacht hat, und befindet sich damit im Gegensatz zu Gleichgültigkeit oder berechnender Zurückhaltung, mit der wir auf jemanden reagieren könnten, bei dem wir nicht auf eine Wiedereingliederung in die moralische Gemeinschaft hoffen.

Strawsons anhaltender Einfluss zeigt sich in der Arbeit zeitgenössischer Philosophen wie R. Jay Wallace, Jesse Prinz, Allan Gibbard, Pamela Hieronymi und Jean Hampton. Obwohl sich ihre Schlussfolgerungen – und viele der Schritte auf dem Weg dahin – unterscheiden, gehen alle von der sentimentalistischen Annahme aus, Emotionen seien die Grundlage unserer Art und Weise, einander moralisch verantwortlich zu machen. Emotionen sind, wie wir Menschen Moral ausüben.

Emotionen sind für sentimentalistische Philosophen die Art und Weise, wie wir Menschen moralisch handeln.

Aber sind diese beiden Lager – die Stoiker und die Sentimentalisten – wirklich diametral entgegengesetzt? Jeder muss auf die Fakten reagieren, die die Gegenseite motivieren, und wenn sie dies tun, sind verblüffende Schritte in Richtung Versöhnung die Folge.

Betrachten Sie die Fakten der Zorn-Gegner. Es gibt mindestens zwei große Nachteile des Zorns, die sie bemerken: Erstens die Tendenz, sich an den Zorn zu klammern und sich gegenüber jeder vernünftigen Stimme der Versöhnung, Entschuldigung oder Wiedergutmachung grollend taub zu stellen; zweitens die Tendenz, Rache zu üben (oft unverhältnismäßig). Die Befürworter des Zorns vertuschen diese Phänomene als Pathologien, die im Wesentlichen nicht mit Zorn verbunden seien. Sie verwenden spezielle Begriffe wie „Empörung“ und „Ressentiments“, um sich auf Zorn zu beziehen, der von solchen Impulsen gereinigt ist. Geläuterter Zorn, so heißt es, protestiere gegen Fehlverhalten, sei aber frei von rachsüchtigen Impulsen und reagiere sofort auf Gründe, den Ärger aufzugeben. (In dieser technischen Terminologie wird „Ressentiments“ normalerweise verwendet, um Proteste für sich selbst zu kennzeichnen, während „Empörung“ für Proteste für einen Anderen gilt.) Dieser Schritt – die dunkle Seite des Zorns aus dem Weg zu räumen – ähnelt in bemerkenswerter Weise dem Schritt, den Gegner des Zorns machen, wenn sie mit dem konfrontiert werden, was wir die „moralische Seite“ des Zorns nennen könnten.

Sowohl Flanagan als auch Nussbaum erkennen an, dass jemand, der nicht auf schwerwiegende Verstöße reagiert, Gefahr läuft, sich dem Bösen hinzugeben. Sie geben die Wichtigkeit einer moralischen Sensibilität zu, die eine Person dazu veranlasst, sich einer respektlosen Behandlung zu widersetzen, aber sie sind der Meinung, eine solche Reaktion ohne richtigen Zorn sei möglich. Flanagan beschreibt mit „gerechte(r) Empörung“, das Urteil, „…dass ein bestimmter Zustand schwerwiegend falsch sei, dass das Falsche korrigiert werden müsse sowie eine starke emotionale Neigung, sich an der Korrektur des Falschen zu beteiligen, ohne wütend zu sein.“ Nussbaum spricht von „Übergangszorn“, der weniger Zorn, als vielmehr „Quasi-Zorn“ ist: „Der gesamte Inhalt der eigenen Emotionen ist: Wie empörend! Hier muss etwas unternommen werden. “

Beachten Sie, was passiert ist: Was als Kampf um „Zorn“ begann, endet damit, dass alle zustimmen, dieses Wort nicht zu verwenden. Stattdessen ziehen es beide Seiten vor, die „moralische Seite“ des Zorns (Dienstagszorn in Form von rationalem und gerechtfertigtem Protest gegen Ungerechtigkeit) von der „dunklen Seite“ (Donnerstagszorn in Form von irrationalem Groll und ungerechtfertigter Rache) zu trennen. Es spielt keine Rolle, ob wir den Strawsonianern folgen und diese moralische Seite „Empörung / Ressentiments“ nennen oder ob wir die Terminologie von Nussbaum und Flanagan „Übergangszorn“ oder „gerechte Empörung“ verwenden.

Wenn Philosophen sich über eine Grundfrage nicht einigen können, heißt das in der Regel, dass jemand etwas zu verbergen hat. In diesem Fall, glaube ich, hat die Scheindebatte uns – und die beteiligten Kämpfer selbst – von der Strittigkeit einer allseitigen Annahme abgelenkt. Jeder geht davon aus, wir könnten die moralische Seite des Zorns bewahren und uns gleichzeitig von grundsätzlich irrationalen Phänomenen wie Groll und Rache distanzieren. Aber was, wenn das gar nicht möglich wäre? Was wäre, wenn wir Menschen Moral durch rachsüchtigen Groll ausüben?

Was als Kampf um „Zorn“ begann, endet damit, dass alle zustimmen, dieses Wort nicht zu benutzen.

Es ist eine Tatsache, dass Menschen eine direkte emotionale Verletzlichkeit dafür aufweisen, wie sie behandelt werden. Wenn Sie also jemandem Unrecht tun, fügen Sie ihm den Schmerz einer ungerechten Behandlung zu. Diese seine moralische Verletzlichkeit ist Teil der Bedeutung dessen, was es heißt, „jemandem Unrecht tun“: Ein Teil des „getanen Unrechts“ besteht darin, dass der Betroffenen das ihm zugefügte Unrecht bemerkt.

Es ist auch eine Tatsache, dass Menschen dazu neigen, aus Prämissen, die wirklich moralische Annahmen über Ungerechtigkeit und Fehlverhalten beinhalten, rachedurstige und vergeltungssüchtige Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich glaube, wir sollten solche Folgerungen nicht allzu bereitwillig pathologisieren oder als psychologischen Trick ablehnen. Ich werde zwei Argumente vorbringen – ein Argument für Zorn und ein Argument für Vergeltung -, die diese Prämissen mit den genannten Schlussfolgerungen verknüpfen, was darauf hindeutet, dass diese Schlussfolgerungen tatsächlich Bestand haben. Wenn wir die Moral nicht läutern können, können wir den Ärger auch nicht läutern.


Kehren wir zu unserem ursprünglichen Beispiel zurück. Ist es vernünftig, dass Sie am Donnerstag böse auf mich sind, nach all meinen harten Bemühungen um Wiedergutmachung? Sowohl Neo-Stoiker wie Nussbaum als auch Neo-Sentimentalisten wie Strawson würden „nein“ sagen.

Sie würden Sie auffordern, zu berücksichtigen, wie das Fehlverhalten, das Ihre Wut auslöste, durch Rückerstattung, Entschädigung, Entschuldigung und ein Versprechen berichtigt wurde. Ich habe mein Fehlverhalten auf jede erdenkliche Weise wiedergutgemacht. Wenn Sie weiterhin so zornig sind, muss es daran liegen –  würden sie argumentieren-  dass Sie vernunftwidrig unempfindlich gegenüber meinen Anstrengungen sind.

Die Tendenz, sich jahrelang, zum Nachteil aller Beteiligten, durch Entschuldigungen und Wiedergutmachung an Ärger zu klammern , wird routinemäßig als irrational abgetan. Insbesondere wird häufig angenommen, dass das Nicht-Loslassen des Zorns auf ein perverses Vergnügen an diesem Zorn hindeuten muss. (So ​​schrieb der Dichter Robert Burns im Jahr 1790:

„…Wo uns’re Alte sitzt und schilt.

Die Stirne zieht in finst’re Falten

um ihren Groll schön warm zu halten!“)

Es gibt Gründe, zornig zu bleiben. Und sie sind nicht schwer zu finden: Sie sind die gleichen, wie die Gründe, überhaupt zornig zu werden.

Diese Idee ignoriert jedoch die Tatsache, dass es Gründe gibt, zornig zu bleiben. Und die Gründe sind nicht schwer zu finden: Sie sind die gleichen, wie die Gründe, überhaupt zornig zu werden. Entschuldigungen, Rückerstattung und alles andere ändern nichts an meinem Diebstahl, oder der Tatsache, dass ich nicht hätte stehlen dürfen. Diese Tatsachen waren Ihre Gründe, zornig zu werden. Da sie nicht durch meine Bemühungen der Wiedergutmachung  – Entschuldigung, Entschädigung –   verändert werden, haben Sie nach der Wiedergutmachung immer noch die gleichen Gründe, zu zürnen, wie vorher. Zorn ist schließlich nicht der Wunsch, etwas zu reparieren, sondern eine Möglichkeit, die Tatsache zu erfassen, dass etwas zerbrochen ist. Sie ärgern sich über etwas, das jetzt in der Vergangenheit liegt, und an dem nichts mehr zu ändern ist. Was ich getan habe, wird immer von dem abweichen, was ich hätte tun sollen, egal was ich als nächstes tue.

Es gibt natürlich viele nicht-rationale Möglichkeiten, wie Ihr Zorn ein Ende finden könnte: Sie könnten sterben, Ihr Gedächtnis verlieren, oder Ihr Zorn könnte sich mit der Zeit einfach auflösen. Angenommen, eines Tages entscheiden Sie, aus dem Nichts heraus, einfach, Ihren Zorn beiseite zu legen, und haben Erfolg damit. Wir könnten diesen Entschluss in gewisser Weise als „rational“ beurteilen – wer möchte sein ganzes Leben lang wütend sein? -, aber nicht in dem Sinne, dass der Grund für Ihren Zorn beseitigt wurde.  Sobald Sie einen Grund haben, überhaupt zu zürnen, haben Sie einen Grund, für immer zornig zu sein. Dies ist das Argument für Zorn.

Nun zum Argument für Vergeltung. Ihr Wunsch nach Vergeltung wird wie Ihr permanenter Zorn als irrational und ungerechtfertigt angesehen. Diese Schlussfolgerung ist jedoch in der Regel das Ergebnis der Annahme, dass Vergeltung das Problem des Zorns ein für alle Mal lösen soll, indem das Falsche ausgeglichen oder rückgängig gemacht wird. Sobald wir diese Annahme fallen lassen, Unrecht könne rückgängig gemacht werden – Sie haben schließlich einen Grund, für immer zornig zu sein -, ist es nicht schwer, ein Argument für Vergeltung vorzulegen. Diese Möglichkeit sollte uns nicht überraschen. Es wäre seltsam, wenn eine der ältesten und universellsten menschlichen Praktiken keine rationalisierende Erklärung fände. Das Argument für Vergeltung ist schlicht, dass wir uns gegenseitig durch Rache zur Verantwortung ziehen.

Wenn ich Sie bestehle, sehen Sie mich als verantwortlich für eine ernsthafte Kluft zwischen der Art und Weise, wie die Welt ist, und wie sie sein sollte. Unsere Sichtweisen stehen im Widerspruch. Sie sehen mein Handeln als moralisch inakzeptabel an und erleben diese Unannehmbarkeit als Schmerz, als Schaden. Aber ich, der es getan hat, sah die Tat offensichtlich als eine vollkommen gute Sache an, nachdem ich die Handlung als gut für mich beurteilt hatte.

Zorn ist auf unheimliche Weise intim.

Angenommen, ich hätte verstanden, dass das, was ich an mich nahm, Ihnen gehörte, und dass ich nicht unter irgendeiner Art von Zwang handelte – Unwissenheit und Zwang sind mildernde Umstände -, zeigt mein Diebstahl, dass ich die Welt in Wertbegriffen sehe, die den Ihren entgegengesetzt sind. Ihr „schlecht“ ist mein „gut“. Wenn Sie mich dafür zur Rechenschaft ziehen wollen, anstatt mich vom Haken zu lassen, machen Sie diesen (zufälligen, nicht wesentlichen) Gegensatz zu einem Prinzip und einer Regel für unsere Interaktionen.

Mit Rache können Sie das Prinzip meines Handelns in eine Regel für Ihr Verhalten mir gegenüber verwandeln: Sie machen mein Böses zu Ihrem Guten. Dies ist das Gegenteil von dem Versuch, meine Aktion rückgängig zu machen oder umzukehren. Sie machen mich verantwortlich, indem Sie an meinem Diebstahl festhalten, ihn nicht vergessen und den damit verbundenen einmaligen Gegensatz unserer Interessen zu einer Regel machen, der ich jetzt unterworfen bin. Sie lassen mich nicht nur nicht damit durchkommen, sondern zwingen mir mein eigenes Denken auf. Mich als verantwortlich für das zu sehen, was ich getan habe, bedeutet, mein Handeln als einen Grundsatz zu betrachten, der von da ab unsere Interaktionen bestimmt. Wütende Menschen nennen ihre Rache manchmal „jemandem eine Lektion erteilen“, und das ist buchstäblich wahr: Sie machen mein Unrecht an Ihnen zu einem allgemeinen Grundsatz und „erziehen“ mich dann, indem Sie es mir selbst aufzwingen.

Mich auf diese Weise zu erziehen, ist nicht ohne Folgen für Sie selbst: Mein Böses zu Ihrem Guten zu machen, hat einen hohen psychischen Preis, unter anderem dadurch, dass Sie sich von dem ablenken, was sonst für Sie gut wäre. Sie müssen Ihre eigene psychische Landschaft so umwandeln, dass sie der Regulierung meiner Psyche dient. Das erklärt die unheimliche Intimität des Zorns: Auch wenn Sie es nicht ertragen können, mir nahe zu sein, ist es auch wahr, dass niemand Ihnen näher ist, als ich. Ich bin in Ihre Denkmuster eingewoben; ich habe meine Finger an Ihrem Herzen; ich habe sogar die Lenkung Ihrer Wahrnehmung übernommen: Sie sehen überall, wo Sie hinschauen, Spuren von mir. Sie beschweren sich über mich bei jedem, der zuhört, und wenn niemand zuhört, schreien Sie ein inneres Abbild von mir an. Ich bin in Ihr Innenleben eingedrungen. Mich zur Verantwortung zu ziehen bedeutet eine Art Umarmung, wenn auch eine hasserfüllte. Zorn fühlt sich genauso an, wie dann, wenn es wahr wäre, dass meine moralische Verantwortung darin bestünde, dass Sie, was  gut für Sie selbst ist, in dem sehen, was schlecht ist für mich.

Wie beim Zorn geht es auch hier nicht um Vergeltung. Man kann zur eigenen Verhaltenssteuerung andere Faktoren als Zorn in Betracht ziehen. Aber insofern man aus Rachsucht handelt, verfolgt man das Gute für sich selbst, indem man das Schlechte für einen Anderen tut. Das ist vollkommen rational, gerechtfertigt und verständlich. Polemarchos in Platons „Politeia“ drückte die Feindseligkeit der Gerechtigkeit aus:”…Freunden gutes tun und Feinden böses…“

Das Argument für Vergeltung ist einfach, dass wir uns durch Rache gegenseitig moralisch verantwortlich machen.

Diese beiden Argumente – das Argument für Zorn und das Argument für Vergeltung – legen nahe, dass es so einfach nicht ist, die Idee, Zorn sei ein moralisches Gefühl, von dem Gedanken zu trennen, wir sollten an unserem Zorn festhalten, oder Zorn als moralischen Mechanismus der Rechenschaftspflicht begreifen, ohne dabei Vergeltung zu üben.

Ich behaupte nicht, dass diese Argumente einen offenen oder, im Gegenteil, einen abgeschlossenen Fall darstellten; Einwände sind durchaus möglich, und eine vollständige Verteidigung der Gültigkeit dieser Denkweisen wäre ein großes Projekt. Mein Ziel war es lediglich zu zeigen, dass der Schluss befürwortet werden muss, Zorn und Vergeltung seien vollkommen rational – und dass ein solches Plädoyer nicht einmal allzu kompliziert ist. Die Argumente, die ich vorgebracht habe, sind einfach und intuitiv, ein Umstand, der ihre Vernachlässigung in den philosophischen Debatten – in Form der unbestrittenen Annahme, Zorn und Vergeltung seien irrational -, nur umso auffälliger machen.

Auffällig, aber nicht unerklärlich. Denn wenn wir die beiden Argumente zusammenfügen, hat jemand, der zornig ist, keinerlei Grund, die Verbindung zwischen dem Bösen des anderen und seinem eigenen Guten aufzuheben. Vielleicht liegt die einfache Erklärung für die Vernachlässigung dieser Argumente darin, dass wir die Möglichkeit nicht anerkennen wollen, moralisch gerechter Zorn könne vernünftige Gründe für grenzenlose Gewalt liefern.


Ira giotto - Die Philosophie des Zorns -  Agnes Callard
Giotto di Bondone: Ira – Die 7 Todsünden, Fresko in der Arenakapelle in Padua

Es mag also so aussehen, als ob die Stoiker und Sentimentalisten sich radikal entgegen stünden, aber sie teilen mehr als man denkt. Insbesondere teilen sie das – wie ich glaube, unbegründete – Vertrauen in ein bestimmtes Projekt der konzeptuellen Analyse. Dieses Projekt zielt auf die Identifikation einer geläuterten Form der moralischen Reaktion ab, die alle Tugenden und keines der Laster des Zorns beinhalten soll. Ich bin nicht die Erste, die argumentiert, ein solches Vorhaben sei eine Donquijoterie. Eine Version meines Standpunkts findet sich bei einer Reihe von Denkern, die sich Fragen der Moral mehr von einem historischen und anthropologischen Standpunkt aus nähern. Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und René Girard haben alle argumentiert, die finstersten Seiten der Wut – Rache, Blutgier und grenzenlose Gewalt – seien in die Idee der Moral selbst eingebettet.

Wir wollen die Möglichkeit nicht anerkennen, moralisch gerechter Zorn liefere vernünftige Gründe für grenzenlose Gewalt.

Nietzsches „Genealogie der Moral“ (1887) führt unsere gegenwärtige Herangehensweise an die Moral auf eine Abkehr von einer prähistorischen Ethik zurück, die auf Adel und Stärke beruhe. Das entscheidende Gefühl, das die neue Moral bestimme, sei das Gefühl des Zorns, das die zuvor Unterdrückten und Versklavten empfänden. Es entstehe eine „Sklavenmoral“, die von Anfang an „Nein“ zu dem sage, was „draußen“ sei, was „anders“ sei, was „nicht selbst“ sei. Und dieses „Nein“ sei deren eigentlich schöpferische Tat. Die negative oder reaktive Moral, die wir in den Vordergrund gerückt hätten, stelle die Konzepte von Schuld, Gewissen, Versprechen und Pflicht in den Vordergrund. Nietzsche sagt: „ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Großen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, daß jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und Folter niemals wieder ganz eingebüßt habe?“

Girards „Das Heilige und die Gewalt “ (1972), ein Werk der Religionsanthropologie, diskutiert die Rolle von Menschen- und Tieropfern bei der Eindämmung von Gewalt. Girard geht von der Beobachtung aus, dass jede Form menschlicher Gemeinschaft von einem Grundproblem bedroht sei: Sobald ein Gewaltakt eintrete, drohe er, eine Kettenreaktion grenzenloser Vergeltungsgewalt auszulösen. Was diese Kettenreaktion antreibe, ist laut Girard nichts anderes als der moralische Schrecken vor Gewalt:  „Die Verpflichtung, kein Blut zu vergießen, ist nicht eigentlich von der Verpflichtung, vergossenes Blut zu rächen, zu trennen. Um also der Rache ein Ende zu setzen, … genügt es nicht, die Menschen von der Verabscheuungswürdigkeit der Gewalt zu überzeugen; gerade weil sie davon überzeugt sind, machen sie es sich zur Pflicht, Gewalt zu rächen.“ Girards Buch behauptet, Phänomene, die so vielfältig sind wie der alte Sündenbock, die griechische Tragödie und die sexuellen Normen, die die Kernfamilie beherrschen, alle Versuche seien, auf dieses Grundproblem der Eindämmung von Gewalt zu reagieren.

Schließlich analysiert Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ (1975) den Übergang von der Bestrafung durch öffentliche Folter und Hinrichtung zur Bestrafung durch Inhaftierung. Foucaults These ist, dass diese Reformen zwar in Begriffen der Menschenrechte des 18. Jahrhunderts formuliert worden seien, ihr Ziel aber sei die Verwandlung der Bestrafung in einen gezielten Angriff auf die Menschenrechte der Gefangenen gewesen: „Die Züchtigung ist nicht mehr eine Kunst der unerträglichen Empfindungen, sondern eine
Ökonomie der suspendierten Rechte.“ Foucault dehnt dann seine Betrachtung über das Gefängnis hinaus aus und argumentiert, dass wir die Werte unserer Gesellschaft in den Methoden des Zwangs erkennen könnten, die soziale Institutionen wie Schulen, Prüfungen, Stundenpläne und berufliche Karrieren kennzeichneten. Wir legten Wert auf Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung und Menschenrechte, indem wir sie den Menschen auf Schritt und Tritt entzögen.

Alle drei Denker haben nach wie vor großen Einfluss, obwohl die empirischen Details ihrer Argumentation von Wissenschaftlern aus verschiedenen Bereichen in Frage gestellt wurden. Ich denke, dass ein Grund für ihre anhaltende und sogar kultische Anziehungskraft darin besteht, dass sie einen überzeugenden und tiefsinnigen philosophischen Standpunkt vertreten, der frei von den besonderen historisch-anthropologischen Begriffen ist, aus denen er sich ableitet. Was haben diese Ansichten gemeinsam? Nietzsche sagt, wir hätten unsere ganze Moral aus grollendem Blutrausch aufgebaut; Girard sagt, Gewalt und die Opposition gegen Gewalt seien ein und dasselbe; Foucault sagt, Bestrafung sei Verbrechen. Der gemeinsame Nenner ist die Beobachtung, dass die menschliche Moral dazu neigt, sich gegen sich selbst zu wenden. Ein guter Mensch zu sein bedeutet manchmal, bereit zu sein, schlechte Dinge zu tun.

Nietzsche, Foucault und Girard haben alle argumentiert, dass die dunkelsten Seiten des Zorns – Rache, Blutgier und grenzenlose Gewalt – in die Idee der Moral selbst eingebettet sind.

Ich habe Gründe für die Annahme angeführt, dass die „dunkle Seite der Moral“, die diese drei Denker in verschiedenen sozialen Institutionen sehen, letztendlich von der Logik der moralischen Reaktionsbereitschaft herrührt: die moralisch korrekte Art, auf Unmoral zu reagieren, besteht darin, selbst irgendwie unmoralische Dinge zu tun – anhaltender Zorn und  Vergeltung.

Wenn wir die anthropologische Distanz aufgeben und zugeben, dass wir selbst die Menschen sind, die wir hier beschreiben, kann die Auseinandersetzung mit dieser Einsicht nichts weniger als eine Krise hervorbringen. Wir können uns nicht außerhalb unserer eigenen Moraltheorie stellen, um sie etwa als bankrott oder fehlerhaft einzuschätzen. Wir müssen unsere Beurteilung auf die Wertbegriffe genau dieser Moral stützen. Von den drei Denkern stellt sich Nietzsche am ehesten dieser Krise, obwohl auch er sich oft dahinter verbirgt, dass ihm Worte wie „Gesundheit“ und „Stärke“ eine alternative Bewertungsmaßstäbe böten. Aber wer will eine Gesellschaft, die gesünder oder stärker ist, wenn diese Worte nicht in einem moralischen Sinne gemeint sind, d.h. in einem Sinn, der bereits von der Dunkelheit unseres Moralsystems verhüllt wird? Es gibt keinen Zaubertrick, der uns aus unserer eigenen normativen Haut befreit.


Zorn korrumpiert moralisch uns alle. Nun, fast alle. Es gibt einen Stoiker, der so extrem ist, dass seine Position weder von Nussbaum, noch von Flanagan oder einem mir bekannten modernen Denker geteilt wird. Dieser extreme Stoiker spricht den Emotionen jegliche moralische Rolle ab. Um diese völlige emotionale Loslösung zu erreichen, legt er keinen Wert auf irgendetwas, das ihm die Welt wegnehmen könnte, einschließlich seiner Kinder, seines Lebens und seiner Freiheit von körperlicher Folter. Extreme Stoiker berufen sich auf Sokrates, der behauptete, ein guter Mann könne nicht geschädigt werden, und der dementsprechend bestritt, dass die Athener ihm Schaden zufügten, als sie ihn für Verbrechen töteten, die er nicht begangen hatte. Sokrates starb ohne Zorn.

Die meisten von uns sind weder bereit, noch in der Lage, den Grad von Distanzierung zu erreichen, den diese Unanfechtbarkeit gegenüber Zorn erfordert. Wenn Menschen uns Unrecht tun, spüren wir es: unser Blut kocht. An diesem Punkt müssen wir entscheiden, wie weit wir unseren Ärger bekämpfen, mit wieviel Aufwand wir den aufkommenden Zorn unterdrücken und besänftigen wollen. Selten wird die Antwort „null“ lauten.

Während wir uns einerseits nicht von unserem Zorn beherrschen und uns zu seinen logischen, ewig rachsüchtigen Folgen treiben lassen wollen, verlieren wir andererseits Selbstachtung und allgemein unseren moralischen Halt, wenn wir unseren Zorn mit zu schwerer Hand niederschlagen. Jeglichen Zorn angesichts echten Fehlverhaltens zu unterbinden, bedeutet, sich dem Bösen hinzugeben. Wir stehen also regelmäßig vor der komplizierten Frage, wie viel Zorn wir uns unter bestimmten Umständen erlauben können.

Wenn aber die Argumente, die ich hier vorgebracht habe, richtig sind, heißt diese Frage eigentlich, wie viel Unmoral wir uns erlauben sollten. Das realistische Vorhaben, Zorn zu unterdrücken, muss aber von der müßigen Anstrengung unterschieden werden, ihn zu läutern. Wir können einen Begriff wie „Empörung“ oder „Übergangszorn“ verwenden, um ein Gefühl zu postulieren, das aufrichtig, ohne jede Anmutung von Ewigkeit oder Rache, gegen Fehlverhalten protestiert, aber der Inhalt dieses Begriffs ist eine Fiktion der Philosophen. Die Vervielfältigung von Gattungen, Arten, Geschmacksrichtungen und Bezeichnungen für Zorn soll uns von der Krise ablenken, die auf dem Grund des Zorns gärt: den durchdringenden Blutgeschmack jeder affektiven Reaktion auf Ungerechtigkeit.

Moralisch korrekt auf Unmoral zu reagieren, heißt, Dinge zu tun, die irgendwie unmoralisch sind – an Zorn und Vergeltung festzuhalten.

Ich glaube, dass wir, wenn mit Ungerechtigkeiten konfrontiert, manchmal etwas zornig werden sollten. Solcher Zorn ist nicht „rein“ und bedeutet, sich (in gewissem Maße) moralischer Korruption zu unterwerfen, aber das stillschweigende Einverständnis ist oft noch schlimmer. Der Punkt, den ich jedoch hervorheben möchte, ist folgender: Nur weil die moralische Korruption durch Zorn unsere beste Option ist, heißt das nicht, dass diese Option vom Vorwurf der Korruption freigesprochen werden kann.

Wenn wir diesen Punkt anerkennen, sind die Konsequenzen ernüchternd: Opfer von Ungerechtigkeit sind nicht so unschuldig, wie wir glauben möchten. Entweder sind diese Opfer moralisch durch den rachsüchtigen und nachtragenden Charakter ihres Zorns gefährdet, oder sie sind moralisch durch ihr stillschweigendes Einverständnis gefährdet. Die langfristige Unterdrückung einer Gruppe von Menschen bedeutet einen langfristigen moralischen Schaden für diese Gruppe. Wann immer es um Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Diskriminierung von Behinderung, Neurodiversität und sozialen Schichten, Religionen oder Elitismus jeglicher Art geht, impliziert dieses Argument, dass Unterdrücker die Unterdrückten zu moralisch schlechteren Menschen machen. Unterdrückung ist natürlich auch schlecht für die Seele des Unterdrückers, aber das bedarf keiner Erwähnung. Wir sind an den Gedanken gewöhnt, dass es uns zu einem schlechten Menschen macht, wenn wir anderen Unrecht zufügen. Mein Punkt ist: das trifft auch auf Opfer des Unrechts zu, wenn auch in geringerem Maße.

Als ich fünf Jahre alt war, bin ich aus Ungarn in die Vereinigten Staaten gezogen, aber dort, am Plattensee, habe ich danach immer noch die Sommer meiner Kindheit verbracht. Dem Haus meiner Großeltern gegenüber befand sich ein bei Ostdeutschen beliebtes Urlaubsresort. Ich konnte die Ferienanlage nicht betreten – sie war von einem Zaun geschützt -, aber eines Sommers, als ich ungefähr zehn Jahre alt war, freundete ich mich mit einem Mädchen in meinem Alter an, das dort Ferien machte. Wir hatten keine gemeinsame Sprache, aber wir verständigten uns, indem wir Spielmannszug spielten: Wir spielten Soldaten und erfanden einen komplizierten militaristischen Tanz, zu dem wir Tag für Tag Bewegungen hinzufügten. Wir marschierten Seite an Seite, getrennt durch den Zaun – bis zu dem Tag, an dem ich von meiner Großmutter erwischt wurde.

Meine Großmutter war eine Überlebende des Konzentrationslagers, daher war sie entsetzt über das, was sie sah: ihre Enkelin, die mit einer von Denen marschierte. Ich versuchte zu erklären, dass wir nur ein Spiel spielten, aber für sie war klar: Ich hatte mit dem Feind kollaboriert. Ich argumentierte, ihr Vorurteil gegen das deutsche Mädchen sei nicht anders, als das Vorurteil der Deutschen uns selbst gegenüber. Mein Protest machte sie nur noch wütender und sie verbot mir, mich dem Mädchen jemals wieder zu nähern.

Aber wie unschuldig war mein Spiel wirklich? Alle vier meiner Großeltern hatten tatsächlich Konzentrationslager überlebt; Alle haben fast jeden verloren, den sie vor dem Holocaust kannten. Meine Großmutter bestritt, dass der Holocaust die größte Tragödie ihres Lebens gewesen sei, die war für sie der Umstand, dass ihr erstes Kind, mein Onkel, mit Zerebralparese zur Welt gekommen war. Aber daran gab sie den Nationalsozialisten die Schuld, vielleicht nicht ohne Grund: Es gibt viele Geschichten über Geburtsschäden bei Kindern von Frauen, die in Konzentrationslagern Mangelernährung und andere Misshandlungen erlitten hatten. (Das erste Baby meiner anderen Großmutter war tot geboren.)

Nur weil die moralische Korruption durch Zorn unsere beste Option ist, heißt das nicht, dass diese Option vom Vorwurf der Korruption freigesprochen werden kann.

Meine Eltern beschlossen, Ungarn zu verlassen, als die Synagoge in unserem Viertel gesprengt wurde. (Danach gingen die Juden in der Gegend heimlich zum Haus meiner Großmutter, um zu beten.)  Nach unserer Ankunft in New York City, nahmen mich meine Eltern von der öffentlichen Schule, nachdem ich verprügelt worden war, weil ich eine Halskette mit einem Davidstern trug . Sie konnten sich keine Privatschule leisten, aber orthodoxe jüdische Grundschulen waren, als Wohltätigkeitsorganisationen, bereit, meine Schwester und mich  kostenlos aufzunehmen. Warum? Wegen des Holocaust natürlich, der an solchen Schulen, neben Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften, ein eigenes Fach war. Vor der High School habe ich kaum ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte geschrieben, die sich nicht in irgendeiner Weise mit dem Holocaust befasste.

Antisemitismus war so sehr das Thema meiner Kindheit, dass man kaum glauben mag, ich hätte versehentlich mit einem deutschen Mädchen Soldat spielen können. Ich war nicht unschuldig. Aber meine Großmutter war auch nicht unschuldig: Sie war voller Zorn. Die Möglichkeit der Unschuld gab es nicht.


Nietzsche, Foucault und Girard trugen zu einer Richtung der Kulturkritik bei, die häufig zur Begründung von Zynismus, Misanthropie und Pessimismus in Bezug auf die menschliche Verfassung bemüht wird. Sie werden als Radikale gesehen. Meines Erachtens muss man allen dreien aber eher ihre Zurückhaltung zum Vorwurf machen. Es ist bemerkenswert, inwieweit sich jeder dieser Denker im sicheren anthropologischen Abstand von der dunklen Seite der Moral bewegte, die er so genau beschrieb. Wenn sie ihre eigenen Theorien folgerichtig zu Ende gedacht hätten, wäre für sie die einfache, verheerende Schlussfolgerung unvermeidbar gewesen, dass es für Menschen – auch für Sie, mich und die drei Denker – unmöglich ist, gerecht zu reagieren, wenn sie ungerecht behandelt werden. In einer schlechten Welt können wir nicht gut sein.

Übersetzt von Agnes Callard: The Philosophy of Anger

(Dieser Leitartikel ist in der neuen Printausgabe von Boston Review „On Anger“ zu finden.)

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