young child sitting in a garden surrounded by llowerd looking skywards, Kleinkind in einem Garten, umgeben von Blumen mit dem Blick zum Himmel

Kindheitstrauma-Reaktionen – Was im Gehirn bei extremer Angst passiert

Kindheitstrauma-Reaktionen: Neurobiologie

Um zu verstehen, was Kindheitstrauma-Reaktionen im Gehirn anrichten, müssen wir verstehen, was ein Trauma überhaupt ist. Dabei sind zum Beispiel, neben objektiven Bedingungen, auch subjektive Bedingungen zu unterscheiden. Eine Situation ist dann objektiv traumatisch, wenn das Ereignis für die meisten Menschen eine extreme Belastung hervorrufen würde, ein bewaffneter Überfall etwa. Ergänzend dazu gibt es aber auch subjektive Bedingungen einer Traumatisierung: das Erleben von extremer Angst, Hilflosigkeit oder Ohnmacht. Dementsprechend sieht die aktuelle Definition einer Traumatisierung nach DSM-IV für das Kriterium A der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) vor, dass sowohl objektive (A1) wie subjektive Kriterien (A2) erfüllt sein müssen.

Definition einer traumatischen Situation nach DSM-IV

Die betroffene Person war einer Situation ausgesetzt, in der die folgenden Bedingungen erfüllt waren:

Die Person war selbst oder als Zeuge mit einem Ereignis konfrontiert, das den Tod, Todesbedrohung oder eine ernsthafte Bedrohung der physischen Integrität, von sich selbst oder anderen Menschen zum Inhalt hatte (Kriterium A1).

Die betroffene Person reagierte mit starker Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen (Kriterium A2). 

Was unerklärlicherweise fehlt, ist die Bedrohung der psychischen Integrität. Wichtig ist aber, dass auch das Zeuge-Werden einer ernsthaften Bedrohung vom DSM-IV als objektiv traumatisierend anerkannt wird. Beides sind Faktoren von großer Wichtigkeit für die Kindheitstrauma-Reaktionen und die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (cPTBS) nach einem Kindheitstrauma, das selten eine einzige Traumasituation umfasst, sondern bedauerlicherweise meist wiederholte Missbrauchssituationen über lange Zeiträume.

Kindheitstrauma-Reaktionen: Angst

Die im Trauma empfundene starke Angst kann alle wahrgenommenen inneren und äußeren Bilder, Geräusche, Gerüche und Körperempfindungen überlagern. Innere oder äußere Reize passieren nämlich normalerweise eine Hirnstruktur, den Hypothalamus – das Tor zum Gehirn, und werden dann zunächst auf einer »primitiven« Ebene, im sogenannten Limbischen System, verarbeitet und dort einer ersten Bewertung unterzogen: „Gut“ oder „Schlecht. Entsprechend fällt die erste Reaktion auf die Reize aus: Neugier oder Angst. Die Amygdala (Mandelkern) ist dabei das »Angstzentrum« oder die »Alarmsirene« des Gehirns. Diese primitive Bewertung ist nicht besonders genau, oft falsch, aber dafür unschlagbar schnell.

Die Weiterverarbeitung der Informationen erfolgt erst später in jeweils höheren Strukturen: zunächst verleiht der Hippocampus (Seepferdchen) dem Geschehen eine zeitlich-räumliche Zuordnung, und schließlich wird die Information der Hirnrinde (dem präfrontalen Kortex) zum Überdenken präsentiert. Dieser verbindet die Informationen mit unserem gesamten Wissen über die Welt und uns selbst, mit unseren früheren Erfahrungen und Problemlösungen. Aus dieser Verarbeitung entstehen bewusste gedankliche Vorstellungen von eben jener inneren und äußeren Welt in der betreffenden Situation, die auch als Erinnerungen abgespeichert werden und abrufbar bleiben. 

Wenn die Amygdala durch beängstigende Informationen erregt wird, kann der präfrontale Kortex Zusammenhänge erkennen und rationale Bewältigungsstrategien entwickeln, durch die dann sozusagen die Amygdala wieder »heruntergefahren« oder »abgekühlt« wird. Statt allgemeinem Alarm werden die vorher beängstigenden Informationen angemessen verarbeitet. Es entstehen strukturierte Einträge ins Gedächtnis, die die Erfahrung festhalten. So eine erfolgreiche Bewältigung stärkt uns dann für zukünftige Herausforderungen. Das erfordert allerdings viel Energie und, vor allem, mehr Zeit.

Bei extremer Angst, z.B. in einer traumatischen Situation, wird dieser normale Informations- und Integrationsprozess blockiert. Die extreme Übererregung der Amygdala kappt die Verbindung zum Hippocampus. Die mit der traumatischen Situation verbundenen Reize, die Bilder, Geräusche, Gerüche oder Körpergefühle bleiben dann unverbunden auf der primitiven Ebene der Amygdala »eingefroren«. Das ist eine Art Überspannungsschutz der höheren Informationsverarbeitung im Gehirn. Aber auch Ohnmacht, Hilflosigkeit, Entsetzen, Ekel oder starke Schmerzen können diese Blockade der Informationsverarbeitung im Gehirn verursachen.

Als Schutz vor den überwältigenden bedrohlichen Gefühlen und Panik hat die gestörte Verarbeitung von Reizen und Informationen eine unmittelbare Kindheitstrauma-Reaktion zur Folge – die sogenannte Dissoziation: psychische Funktionen, die normalerweise zusammenhängen, fallen auseinander. Unsere Wahrnehmung, unser Bewusstsein, Denken, Handeln und Fühlen werden, teilweise oder vollständig, voneinander getrennt. Damit wird das gedankliche Zusammenfügen der situativen Reize zu einem verständlichen Bild der bedrohlichen Situation sabotiert. Die Umgangssprache nennt diesen Zustand einen „Schock“. Die Folge ist die Kindheitstrauma-Reaktion der Depersonalisation. Die Selbstwahrnehmung verschiebt sich, und Betroffene fühlen sich fremd im eigenen Körper, als ob sie sich von außen betrachten. Dabei reagieren sie völlig angemessen auf ihre Umwelt, aber Sinneswahrnehmungen, wie Schmerz oder auch Körpergefühle wie Hunger und Durst können gestört sein. Bei der Derealisation setzt als Kindheitstrauma-Reaktion ein Gefühl der Unwirklichkeit ein. Die Umwelt erscheint eigenartig fremd oder irgendwie verändert, weniger real und eher wie in einem Film. (Lesen Sie auch den Beitrag zu Brain Fog.)

Mit der Reizverarbeitung im entwicklungsgeschichtlich sehr alten Limbischen System, fallen auch die Kindheitstrauma-Reaktionen im Verhalten entsprechend urtümlich aus, sie finden sich bei den meisten unserer tierischen Vorfahren – Angriff, Flucht, Totstellen und Unterwerfung, die Vier F. Sie sind die biologisch verankerten Notfall-Reaktionssysteme: Fawn (Bindungssystem), Fight (Kampf) und Flight (Flucht), und, wenn das nicht funktioniert, Freeze (Erstarren). Das ist die traumatypische Lähmungs- und Betäubungsreaktion.

Vor diesem Hintergrund können ähnliche, eigentlich selbst nicht bedrohliche, Alltagsreize später die Amygdala aktivieren und starke Angstreaktionen und andere Gefühle auslösen – ohne die Einsicht, dass die Bedrohung »Dort und Damals« hingehört, und im »Hier und Jetzt« gar keine akute Gefahr besteht. Es sind die Trauma-Netzwerke, die in diesen Trigger-Situationen (Flashback) erneut aktiv werden. Der eingefrorene Ich-Zustand wird „aufgetaut“ und baut sich in seiner Schrecklichkeit wieder auf. 

Dann erleben die Betroffenen unverhofft extreme Angst oder Panik, die mit der realen Situation gar nichts zu tun hat. Meist werden diese Ängste auch von ihnen selbst und der Umgebung als befremdlich erlebt. Auch Traurigkeit oder Wut können so getriggert werden.

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Stress- und angstbedingte Blockade der Informationsverbeitung (Quelle: Diegelmann, C., Isermann, M., Zimmermann, T.: Therapie-Tools Psychoonkologie. Beltz, Weinheim 2020.)

Kindheitstrauma-Reaktionen: Albträume, Flashbacks, Intrusionen 

„Natürliche“ Blockaden des Informationsverarbeitungssystems führen also zu den typischen posttraumatischen Stress-Symptomen, die einfach Kindheitstrauma-Reaktionen sind. Auch wenn es Betroffenen vorkommt, als verlören sie den Verstand – es sind normale Reaktionen auf eine abnormale Situation. Viele Menschen, die schon einmal eine traumatische oder beängstigende Situation erlebt haben, kennen einige dieser Reaktionen: Dabei handelt es sich um mehrheitlich unvermittelt, überfallartig auftretende Ängste, Bilder, oder Körpergefühle – ausgelöst durch irgendeinen inneren oder äußeren Reiz (Trigger). Den Betroffenen ist dabei der Zusammenhang mit der ursprünglichen Situation oft nicht bewusst, da die Reaktionen auf der „primitiven“ Ebene der Amygdala ablaufen. 

  • Beispielsweise wird einer Patientin regelmäßig übel, wenn sie zur Renovierung ihrer neuen Wohnung fährt. Sie kann sich dies nicht erklären. Schließlich stellt sich heraus, dass ihr gewalttätiger Vater begeistert an der Verschönerung der eigenen Wohnung gearbeitet, und sich ihr auch in ihrer ersten eigenen Wohnung, nach dem Auszug aus dem traumatischen Elternhaus, als Hilfe bei der Renovierung aufgedrängt hatte.
  • Eine andere Patientin erlebt immer starke Panik und Angst davor, überfahren zu werden, wenn sie die Straße überqueren will. Ihre Katastrophenerwartung stammt eigentlich aus ihrer Kindheit, wenn ihre Eltern lediglich ihre Schwester irgendwohin mitnahmen und sie, ohne weitere Begründung, allein zurückließen. Dann hatte sie Angst, dass etwas Furchtbares passieren würde. 
  • Die gleiche Patientin hatte einen Widerwillen gegen ihr Spiegelbild und Fotoaufnahmen von sich – Ihre Eltern hatten ihr ständig vorgehalten, wie ungeschickt, hässlich und dumm sie sei.

Auch bestimmte Gerüche oder Körperwahrnehmungen und selbst Träume können solche Trigger sein. Die Folge sind Intrusionen und Albträume. Darin tauchen traumatische Situationen mit dem dazugehörigen, unverbundenen Körperzustand im Gedächtnis auf, werden aber als „traumartig“ erlebt. Der Flashback ist dagegen ein hyperreales Wiedererleben traumatischer Situationen. Das ist ein Unterschied wie zwischen dem Erleben einer Situation in der ersten Reihe eines Multiplex-Kinos und der Anwesenheit in derselben Situation. 

Eine Besonderheit der cPTSD sind emotionale Flashbacks – sie stellen keine kinoartigen Erlebnisse einer fragmentierten Situation dar, sondern sie wecken die emotionalen Anteile solcher Situationen: Hilflosigkeit, Panik, Wut, Traurigkeit. Ihre überwältigende Intensität ist nicht aus der Trigger-Situation, sondern aus dem vergangenen Erleben zu erklären. Sie können Minuten, aber auch Tage, Wochen oder Monate anhalten.

Kindheitstrauma-Reaktionen: Anhaltend gesteigerte physiologische Erregung (Hyperarousal)

Eine permanente Angst, verlassen zu werden, ist, wie zuvor besprochen, das Furchtbarste, was Kinder in einer missbräuchlichen Familie erleben können. Diese Furcht ist so schrecklich, dass sie einerseits die beschriebenen Abwehrreaktionen auslöst und damit andererseits aus dem Bewusstsein verdrängt wird. Was zurückbleibt, ist eine dauerhaft gesteigerte Erregung im Körper, die später zu Schlafstörungen, erhöhter Schreckhaftigkeit oder Konzentrationsstörungen führen kann 

  • So berichtet ein Patient, dass er sich kaum noch auf das Lesen der Tageszeitung konzentrieren kann, oder dass er, wenn er ein Buch liest, plötzlich den Inhalt der letzten Seiten wieder vergessen hat.
  • Eine andere Patientin kann sich nicht daran erinnern, was der Arzt ihr bei der Diagnosemitteilung gesagt hat. Stattdessen erinnert sie sich, dass er eine gelb blaue Krawatte trug und ein besorgtes Gesicht gemacht hat. 

In beiden Situationen wird die Verlassenheitsangst reaktiviert und infolgedessen die Amygdala extrem übererregt. Der präfrontale Kortex ist »ausgeschaltet«, besonders auch dessen linke, eher rationale Regionen, einschließlich des Sprachzentrums. Dementsprechend werden Fakten weder vollständig aufgenommen, noch angemessen verknüpft.

Kindheitstrauma-Reaktionen: Vermeidungsverhalten

Um nicht ständig von belastenden Emotionen »überfallen« zu werden, können wir versuchen, Trigger zu vermeiden. Das kann gesund sein. Selbstschädigend wird die Vermeidung, wenn es zur Verdrängung bestimmter Themen (z.B. Sorgen), und zum Meiden bestimmter Orte (z.B. Schulgebäude) oder auch von Gegenständen (Spiegel) und Situationen (Fotoaufnahmen) kommt – wie etwa im oben erzählten Beispiel.

Kindheitstrauma-Reaktionen: Traumaidentität

Aus der fragmentierten und de-kontextualisierten Informationsverarbeitung entsteht also kein inneres Bild der furchtbaren Situation, sondern ein Trauma-State (mit dem Trauma assoziierter Ich-Zustand). Er beruht auf neuronalen Netzen, die in der Situation aktiviert wurden, die Trauma-Netzwerke, die ein körperlich-leibliches Reizmuster abbilden. Der Ich-Zustand wird in der Amygdala „eingefroren“ statt verarbeitet zu werden. Die Folgen dieser Kindheitstrauma-Reaktion sind oben beschrieben.

Die Sprachareale der Hirnrinde sind andere höhere Stationen der Informationsverarbeitung. Ihre Blockade verhindert die sprachliche und erzählende Sinngebung und Einbettung des furchtbaren Geschehens, die Mentalisierung. Das soziale Resonanzsystem der Spiegelneuronen und das Bindungssystem sind ebenso gemeinsam mit der bedeutungsgebenden Verarbeitung der Situation blockiert. 

Dazu kommt noch, dass Kinder gar keine Möglichkeit haben, den Missbrauch durch Eltern, Geschwister, andere nahe Verwandte oder Autoritätspersonen gedanklich einzuordnen und zu verstehen. Sie fühlen sich selbst schuldig am Geschehen und entwickeln ein negatives Selbstbild – die sogenannte Traumaidentität. Sie ist durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet, die aus einer Wurzel stammen – der Angst vor dem Verlassenwerden, das für alle Säugetierbabies ein furchtbares Erlebnis ist, die die tröstende, beruhigende, schützende, haltende und nährende Anwesenheit der Mutter anfangs ständig benötigen. Das Verlassenwerden löst eine tiefe Depression aus, die wirklich die Lebensfähigkeit selbst lähmt, die Verlassenheitsdepression oder die „Dunkle Nacht der Seele“. Sie ist so erschreckend, dass alle psychischen Schutzmechanismen in mehreren Ebenen dagegen in Stellung gebracht werden wie Ringe von Festungsmauern. Diese Festungsmauern führen zu den charakteristischen Verhaltensmustern bei cPTBS, dem individuellen Muster der Vier F. Die Überlebenden von Kindheitstraumata befinden sich eigentlich ständig im Alarmzustand, ihr Denken ist oft in katastrophisierenden Erwartungen und Schwarz-Weiß-Mustern gefangen. Ihr Perfektionismus und hartes Leistungsstreben – zur „magischen“ Abwendung der drohenden Gefahr – stehen ausgeprägte Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle gegenüber. Nie sind Erfolge verdient, sicher und dauerhaft. 

Außerdem ist die Traumaidentität geprägt von einem fehlenden Urvertrauen darauf, dass die Welt schön, das Leben lebenswert und das Kind liebenswert und einzigartig ist. Die Folge sind toxische Schuld und toxische Scham, die das Wesen des Kindes und späteren Erwachsenen selbst infrage stellen und seine Bindungs- und Beziehungsfähigkeit tiefgreifend schädigen können. 

Die Traumaidentität verbindet sich mit den genannten Kindheitstrauma-Reaktionen (Hyperarousal, Vermeidung, Flashbacks). Versuche, diese Erlebnis- und Verhaltensweisen zu bewältigen, sind allerdings oft selbstschädigende Muster sind. Solange sie fortbestehen, ist oft auch ein „Wiederholungszwang“ vorhanden, der – scheinbar unverständlich – traumatisierende Beziehungsmuster nachkonstelliert, entweder nur in bestimmten Situationen oder auch dauerhaften Beziehungen.

Dass die Traumanetzwerke reaktivierbar bleiben, hat aber auch seine gute Seite. Mit den Ressourcen der erwachsenen Überlebenden kann ihre Aktivität in der Psychotherapie mit neuen Informationen und korrigierenden Erfahrungen so verknüpft werden, dass emotionale Flashbacks immer seltener und rascher erkannt werden. Dann können Traumaüberlebende sie auch in Minuten erkennen und durchbrechen. Dazu gibt es auch erlernbare Skills im Umgang mit selbstschädigenden Bewältigungsstrategien.

Quellen:

Maercker, A.: Posttraumatische Belastungsstörungen.

Sack, M.: Schonende Traumatherapie: Ressourcenorientierte Behandlung von Traumafolgestörungen.

Walker, P.: Complex PTSD: From Surviving to Thriving: A Guide and Map for Recovering from Childhood Trauma

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