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Religion und Kindheitstrauma 03: Scham und das Heilige

Das Heilige und die kindliche Entwicklung

Einleitung

In verschiedenen Glaubenssystemen stehen Konzepte der Scham und des Heiligen im Zentrum religiöser Erfahrungen und in Beziehung zu Ethik.

Das Heilige wird durch die Existenz unkörperlicher, übernatürlicher Kräfte definiert, die von den Religionen angenommen werden. Diese Kräfte können persönlich oder unpersönlich sein, wie Gottheiten, Geister oder Gesetzmäßigkeiten wie Dao oder Dharma. Gleichzeitig setzten Religionen voraus, dass der Mensch mehr als ein körperliches Wesen ist und eine Verbindung zum Übernatürlichen in einer über das normale Bewusstsein hinausgehenden Dimension hat, die geheiligt wird. Dann sind mit Religion alle Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen gegenüber einer übernatürlichen Wirklichkeit gemeint sind, sei es als Macht, Geister, Götter, das Heilige oder Absolute oder einfach nur als Übernatürliches.

Unabhängig davon, wie das jeweilige Glaubenssystem das Heilige auffasst, spielt das Heilige eine grundlegende Rolle in der Wurzel von Ethik und Moral und verbindet den Menschen mit dem Höheren auf eine spezielle, geheiligte Weise und wird und so zu einem integrativen Bestandteil der Erfahrung des Menschen wird. Religion ist also in Gesellschaften keine rein individuelle Angelegenheit, sondern fördert die gemeinschaftliche Verbindung und das gemeinsame Handeln innerhalb einer Gesellschaft. Ethische und moralische Werte, die durch Religionen vermittelt werden, stabilisieren die Gesellschaften und sichern das Überleben der Gruppen, weil sie prosoziales Verhalten fördern und soziale Normen setzen.

Das Heilige

Im Kontext von Religion und Ethik spielt also die Frage nach dem Heiligen eine ganz besondere Rolle. Der evangelische Theologe Rudolf Otto beschrieb das religiöse Gefühl als ein Gefühl des Überweltlichen (sensus numinis). Er beschrieb vier Elemente dieses religiösen Erlebens – das Tremendum = das Schauervolle, die Majestas = das Übermächtige, das Energische = die Kraft, den Willen und das Mysterium = das „Ganz Andere“. Im Kern seiner heute vergessenen Theorie beschreibt Otto das Heilige zunächst als eine Erfahrung des „Ganz Anderen“, eine Mischung aus Faszination und Furcht, die das menschliche Gefühl unmittelbar und intuitiv erfasst. Dieses ursprüngliche, emotionale Erlebnis des Heiligen beschreibt er als eine Begegnung mit dem Numinosen, das zugleich erschreckend (tremendum) und anziehend (fascinans) ist. Laut Otto wird dieses ursprüngliche Gefühl des Heiligen später durch das Denken „versittlicht“. Damit meint er, dass die rohe, unmittelbare Erfahrung des Numinosen allmählich in die Strukturen der menschlichen Moral und Ethik eingebunden wird. Dieser Prozess der Versittlichung verändert das ursprüngliche Gefühl, sodass es mit den kulturellen und ethischen Normen der Gesellschaft übereinstimmt. Menschen beginnen, das Heilige mit moralischen Kategorien und Konzepten zu verbinden. So können sie religiöse Erfahrungen in ihr tägliches Leben und ethisches Handeln einordnen.

Scham als emotionale Reaktion entsteht, wenn der Einzelne gegen soziale oder religiöse Normen seiner Gemeinschaft verstößt, ob als heilig angesehen oder nicht. In vielen Kulturen und Religionen wird aber das Überschreiten solcher Grenzen nicht nur als moralisches Fehlverhalten, sondern auch als Vergehen gegen das Heilige (Sakrileg) betrachtet. Handlungen oder Gedanken, die als entheiligend oder respektlos gegenüber dem als heilig Betrachteten gedeutet werden, wecken Scham. Sie signalisiert die Verletzung des Heiligen und dient als Ansporn, auf den Boden akzeptierter Normen zurückzukehren. Scham hat daher eine wichtige soziale Funktion in der Aufrechterhaltung religiöser und moralischer Ordnung. Sie hilft, das Verhalten innerhalb der Grenzen zu halten, die durch das als heilig Erachtete bestimmt sind.

Ähnlich der „Versittlichung des Heiligen“ kann auch die Scham versittlicht werden, indem sie in den Rahmen ethischer Überlegungen eingebettet wird. So bringt das Erleben von Scham Menschen dazu, nicht nur aus Angst vor sozialer Ablehnung, sondern aus echter moralischer Überzeugung handeln.

Kinder und das Konzept des Heiligen

Kinder, die in einem religiösen Kontext aufwachsen, begegnen früh im Leben Begriffen des Heiligen, die sowohl ihr Verständnis von der Welt als auch ihre innere moralische und ethische Entwicklung formen.

Kinder lernen vieles durch Beobachtung und Nachahmung. Die Art und Weise, wie das Heilige in ihrer Familie und religiösen Gemeinschaft präsentiert und verehrt wird, bietet ihnen erste Einblicke in das, was als besonders wertvoll oder Ehrfurcht gebietend gilt: Rituale, spezielle Feste, heilige Texte und Orte. Solche Erfahrungen helfen Kindern, die Welt in Kategorien des Heiligen und Profanen zu verstehen und bieten ihnen einen Bezugsrahmen für die Deutung eigener spiritueller Erfahrungen.

Entwicklung des moralischen und ethischen Bewusstseins

Kinder lernen so, bestimmte Dinge, Handlungen oder Orte als heilig zu betrachten, mitsamt den dazugehörigen Normen und Regeln. Dieses Wissen beeinflusst ihre persönliche Entwicklung und vermittelt eine Richtschnur für die Unterscheidung von Richtig und Falsch. Das Heilige taucht in Form von Geboten in Geschichten auf, die wichtige moralische Lektionen vermitteln. Sie halten Kinder zu bestimmten Tugenden wie Ehrlichkeit, Mitgefühl oder Gehorsam an.

Teilhabe und Identitätsbildung

Durch die Teilnahme an den erwähnten religiösen Ritualen und Festen, die das Heilige ehren, fühlen sich Kinder als Teil ihrer Gemeinschaft, wenn sie deren Werte und Traditionen achten. Diese Teilhabe geht ein in ihre soziale und religiöse Identität als ein Zugehörigkeitsgefühl.

Emotionale und spirituelle Erfahrungen

Kinder erleben das Heilige oft auf eine unmittelbar emotionale Weise, verbunden mit Gefühlen der Ehrfurcht, des Wunders und der Neugier, die zum Kern einer tiefen religiösen Erfahrung verschmelzen. Solche Erfahrungen gewähren Kinder in schwierigen Lagen Trost und Orientierung und wecken ein Verständnis von einer größeren Macht oder einem höheren Zweck.

Wenn das Heilige Kindern schadet

Kinder können sich den Begriff der Heiligkeit nicht selbst aus Sinneserfahrungen bilden und müssen ihn darum von Bezugspersonen und ihrer Gemeinschaft übernehmen. Erfahren sie eine höhere Macht als versöhnlich, tröstend und Halt gebend, macht deren Allgegenwart, Allwissenheit und Allmacht Mut. Eine unsichtbare Gegenwart, die alles weiß, straft, rächt und tötet, wird vielmehr unerträgliche ständige Furcht erzeugen. Aus dieser Furcht vor Strafe oder – für Kinder besonders unerträglich – Verlassenheit unternehmen sie alles, um nur ja keinerlei Schuld auf sich zu laden und sich dergestalt der Rache des Heiligen auszusetzen. Das geschieht hauptsächlich dann, wenn der das Heilige und die daran geknüpften Erwartungen innerhalb religiöser Gemeinschaften starr und unerbittlich gestaltet wird. Es stellt den Kern des spirituellen Missbrauchs dar.

Beschämung und Strafen

In manchen religiösen Erziehungspraktiken werden Fehler oder Sünden mit harten Strafen bedroht, sowohl physisch als auch emotional. Kinder, die für vermeintliches Fehlverhalten beschämt oder bestraft werden, müssen unweigerlich toxische Scham, eingebettet in ein grundlegendes Gefühl der Wertlosigkeit.

Überforderung durch religiöse Erwartungen

Wenn Kinder dazu gedrängt werden, sich ständig „heilig“ zu verhalten oder wenn sie unrealistischen religiösen Idealen entsprechen sollen, weckt das starke innere Ängste und Selbstzweifel. Unerfüllbare Erwartungen schädigen ihr Selbstwertgefühl und werden zur Ursache langfristiger Angstzustände oder Depressionen.

Isolation und soziale Ausgrenzung

Religiöse Normen der eigenen Gemeinschaft nicht erfüllen zu können und gleichzeitig zu erfahren, dass dieses Ungenügen sozial isoliert oder ausgegrenzt wird, weckt in Kindern entsetzliche Angst vor diesem Verlassenwerden von ihren Lieben und dem ungeborgenen Ausgesetztsein in einer feindseligen Welt. Diese Furcht verstärkt auch noch im Erwachsenenalter das Gefühl des Abgeschnittenseins und verbaut jeden Zugang zu unterstützenden Beziehungen oder Netzwerken außerhalb der Glaubensgemeinschaft.

Konflikte zwischen persönlicher Identität und Glauben

Innere Konflikte mit unerbittlichen Glaubenslehren oder Praktiken einer Religion, erzeugen kaum erträgliche innere Spannungen. Derartige Widersprüche zwischen persönlichem Fühlen, Denken und Handeln und starren äußeren Erwartungen münden in eine Identitätskrise und seelischen Schmerz.

Derartige traumatische Erfahrungen mit dem Heiligen in der Kindheit beschädigen die geistige Gesundheit und das Wohlbefinden auf lange Zeit und stören die emotionale Regulation und zwischenmenschliche Beziehungen dauerhaft.

Die Rolle der Scham in religiösen Gemeinschaften

Manche religiösen Gemeinschaften setzen auf Beschämung, um Mitglieder zur Einhaltung moralischer Gesetze und ethischer Anforderungen und Befolgung der jeweiligen Überlieferung zu bewegen. Dann bedrohen Gebote der höchsten Autorität Ungehorsam mit diesseitigen oder jenseitigen Strafen oder Verlust des ewigen Heils. Verstöße gegen diese Regeln können aber auch von der Gemeinschaft sanktioniert werden. Der Ungehorsam wird bloßgestellt und der Übeltäter von der Gemeinschaft ausgestoßen. Das kann in einem entsprechenden natürlichen Umfeld nicht nur Einsamkeit, sondern den Tod zur Folge haben.

In solchen Fällen dient Scham der sozialen Kontrolle, stabilisiert psychisch und physisch und fördert individuelle Hilfsbereitschaft und gesellschaftliche Verbesserungen.

Andererseits sind in autoritären Religionsgemeinschaften Angst und Scham mächtige Instrumente, um Mitglieder zu kontrollieren. Diese Gemeinschaften wecken im Einzelnen ein Gefühl der Scham in der Überzeugung, von Natur aus unwürdig und mangelhaft zu sein und darum Erlösung ausschließlich in der Religionsgemeinschaft erlangen zu können. Befolgung religiöser Doktrinen wird damit zur Grundlage für Akzeptanz und Überleben. Es entsteht eine Abhängigkeit von der religiösen Gruppe.

Darüber hinaus entwickeln solche Gemeinschaften Praktiken, Personen, die sich den Lehren oder Praktiken der Religion nicht anpassen oder widersetzen, öffentlich zu brandmarken. Derartige Praktiken können sogar fordern, dass sich Mitglieder selbst bloßstellen und beschämen, wenn sie die erwarteten Normen nicht befolgen oder die Überzeugungen der Gemeinschaft infrage stellen.

Das beeindruckt emotional schutzlose Kinder nachdrücklich, die Zeugen derartiger Beschämung werden. Sie verinnerlichen Schuldgefühle und die Überzeugung eigener Unzulänglichkeiten, und ein Kreislauf von Scham und Angst kommt in Gang. Die Angst vor Verurteilung und Ablehnung hält sie davon ab, jemals Fragen zu stellen oder Zweifel zu äußern. Das hält sie dauerhaft in dem Kreislauf gefangen.

Die Angst vor Ausschluss aus der Gruppe erzeugt einen Wohlverhaltensdruck und entmutigt Spontaneität und Eigenständigkeit des Denkens und Handelns. Entschließen sich Einzelne im Erwachsenenalter dazu, solche kontrollierenden Religionsgemeinschaften zu verlassen, entsteht eine traumatische Erfahrung des Verlusts des sozialen Halts, einer kohärenten Weltanschauung und jedes Sinns und Zwecks, den die Gemeinschaft bot, zusammen mit dem Gefühl der untilgbaren Scham und Schuld wegen des Verrats.

Scham in der religiösen Erziehung

Es gibt unterschiedliche Ansichten über das Konzept der Scham in der religiösen Erziehung, insbesondere aus dem Blickwinkel religiöser Traumata.

Nach Freud entspringt die Religion dem Bedürfnis, sich gegen natürliche Ängste zu wehren und eine moralische Ordnung zu schaffen, um Begierden wie Töten und Zerstören entgegenzuwirken. Er betrachtete die Religion zwar als „kollektive Neurose“, aber anerkannte ihre ursprüngliche Funktion als Schutz gegen Ängste, weil sie unerklärliche Aspekte des Lebens erklärt. Freuds Perspektive auf die Religion ist die eines „Selbstobjekts“. Diesen Begriff hat Freud allerdings nicht verwendet. Er stammt der späteren Selbstpsychologie von Heinz Kohut und bezieht sich auf Personen oder Objekte in der Umwelt eines Individuums, die dazu dienen, das Selbstgefühl zu regulieren und zu erhalten. Selbstobjekte wie die Religion sind nicht buchstäblich Teile des Selbst, werden aber psychologisch so erlebt, als ob sie Teil des Selbst wären. Sie spielen darum eine entscheidende Rolle in der Entwicklung und Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls und des emotionalen Gleichgewichts, das das Selbstkonzept unterstützt und Erklärungen liefert, die über das wissenschaftliche Verständnis hinausgehen.

Im Gegensatz dazu bedienen autoritäre Religionen den bereits erwähnten Kreislauf von Beschämung und Angst, beispielsweise durch Lehren von Erbsünde und ewiger Verdammnis. Kinder fühlen sich dann schuldig, für ihre Handlungen verantwortlich und zugleich machtlos. Betonung der Scham in der religiösen Erziehung, etwa im fundamentalistischen Christentum, führt zu Traumata, innerer Zersplitterung und psychischem Leid, weil Kinder erfolglos darum ringen, ihre Selbstwahrnehmung und -akzeptanz mit den religiösen Lehren in Einklang zu bringen.

Religion, Kindheitstrauma und die Rolle der Scham

Kindheitstrauma und religiöses Trauma sind eng miteinander verbunden. Ebenso wie körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch oder Vernachlässigung, hat spiritueller Missbrauch nachweislich langfristige Folgen, bis hin zu einer erhöhten Rate an psychiatrischen Störungen im Erwachsenenalter. Spirituelle Traumatisierungen beeinträchtigen die neuronale Entwicklung und das Immunsystem und verursachen Depressionen und Angstzustände.

Religiöses Trauma, d. h. die emotionalen und psychologischen Auswirkungen der Abkehr von religiösen Überzeugungen im Erwachsenenalter, schafft eine zusätzliche Dimension der Traumatisierung mit Erschütterung des Identitätsgefühls und des Wohlbefindens. Der Austritt aus einer autoritären oder angstbasierten religiösen Gemeinschaft erzeugt eine kognitive Dissonanz, die unerträglich werden kann

Die Schrecknisse einer Tabuübertretung und deren Folgen reichen dabei weit in die Menschheitsentwicklung zurück. Von den Mitgliedern der Gruppe wird in indigenen Gesellschaften erwartet, die Gesetzmäßigkeiten des Daseins zu erkennen und entsprechend zu handeln. Sanktionen seitens der Gemeinschaft für Verstöße gegen Regeln sind möglich, jedoch von noch größerer Bedeutung ist die symbolische Dimension derartiger Übeltaten.

In Kulturen, in denen Magie und Tabu tief im Glaubenssystem verwurzelt sind, wird die Vorstellung, durch übernatürliche Kräfte beeinflusst zu sein, zu einer realen und wirkmächtigen Wahrheit. Der Glaube an die Macht eines Fluchs nach einer Tabuverletzung kann so überwältigend sein, dass er physiologische Reaktionen hervorruft, die sogar zum Tod führen können. Der Tod durch die individuelle Überzeugung, nach einer Tabuübertretung verflucht zu sein, wird durch die gleichgerichtete Überzeugung in der Gemeinschaft wie in einer Echokammer verstärkt: die Reaktion der Gemeinschaft, die Bestätigung des Fluchs durch Schamanen oder Heiler und die daraus resultierende Isolation des Opfers verstärken die Überzeugung des Betroffenen, dass sein Schicksal besiegelt ist. Religiöse und kulturelle Überzeugungen sind für ihre Anhänger real und machtvoll, unabhängig davon, wie sie von Außenstehenden wahrgenommen werden.

Religion und öffentliche Verurteilung haben darum erhebliche Gemeinsamkeiten, etwa heftige Unduldsamkeit gegen Abweichler sowie deren Ächtung. Öffentliche Beschämung und Ausschluss aus einer Religionsgemeinschaft nach einer Normverletzung haben schwerwiegende soziale und metaphysische Konsequenzen für das Individuum.

Traumatisierende religiöse Erfahrungen führen aber schon bei Erwachsenen zu innerer Zerrissenheit, Angst und Depression mit Schwierigkeiten bei der Wiederherstellung des eigenen Selbst- und Realitätssinns. Entsprechend tiefer sind die Spuren spirituellen Missbrauchs bei Kindern. Traumata in der Kindheit durch den Kontakt mit toxischen religiösen Lehren, hemmen normale Entwicklungsstadien und das kognitive, soziale, emotionale und moralische Wachstum. Betroffene Kinder stehen nach der Abkehr von traumatisierenden Glaubensinhalten und -gemeinschaften vor Herausforderungen beim kritischen Denken, bei der Entscheidungsfindung und bei der Wiederherstellung ihres Selbstbewusstseins.

Fazit

Das Spannungsfeld zwischen dem Heiligen und der Scham im individuellen religiösen Erleben und in der kindlichen Entwicklung ist vielschichtig und hat weitreichende Auswirkungen auf die psychologische Gesundheit und soziale Integration von Kindern.

Das Heilige spielt eine fundamentale Rolle in der Identitätsentwicklung von Kindern in religiösen Gemeinschaften, bietet ihnen einen Bezugsrahmen für das Übernatürliche und fördert durch seine Verehrung die Verbindung des Menschen zu etwas Größerem als dem Selbst. Jedoch birgt die Interaktion mit dem Heiligen, insbesondere in der Kindheit, auch Risiken, etwa bei rigiden Erwartungen und drohender Isolation nach Regelübertretungen.

Scham, als Reaktion auf die Verletzung des Heiligen, dient nicht nur zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, sondern kann auch psychologische Traumata verursachen, wenn sie nicht im Rahmen unterstützender Gemeinschaftspraktiken erfahren wird. Insbesondere in der Kindheit hinterlässt durch das Heilige induzierte, toxische Scham tiefe Spuren, von Angst und Unsicherheit bis zu langfristigen emotionalen und sozialen Problemen.

Wir müssen uns die Beziehung zwischen dem Subjekt, der Wahrheit und den Praktiken der Selbstprüfung und Selbstvervollkommnung vor Augen halten, wenn wir das Verhältnis von Heiligem und Scham verstehen wollen.

Die Überschneidung von religiöser Erziehung, Scham und verinnerlichter Schuld prägt die Selbstwahrnehmung und die Beziehung zum Glauben. Widersprüchliche Botschaften von Sünde, Vergebung und dem Streben nach Selbstkorrektur innerhalb religiöser Gemeinschaften zwingen Kindern eine Last der Scham auf, die sie mit sich tragen müssen und die ihre Sicht auf sich selbst und ihren spirituellen Weg dauerhaft vorzeichnen.

Ein tiefes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Heiligem, Scham und religiöser Praxis ist Voraussetzung für das Verständnis versteckter psychologischer Auswirkungen von spirituellem Missbrauch. Dieses Wissen ist nicht nur für die geistige Gesundheit von Kindern, sondern auch für die Gestaltung von Bildungs- und Unterstützungsangeboten innerhalb von Gemeinschaften von großer Bedeutung. Die „Versittlichung“ des Heiligen, also die Integration seiner unmittelbaren Erfahrung in die Strukturen menschlicher Moral und Ethik, zeigt, dass das Verhältnis von Individuum zu den religiösen und kulturellen Normen dynamisch ist und eine ständige Reflexion und Anpassung erfordert. Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, das sie lehrt, das Heilige als Quelle von Trost und moralischer Führung zu betrachten, entwickeln ein gesundes Selbstwertgefühl und soziale Fähigkeiten. Eine Überforderung mit diesen Konzepten, gepaart mit der Angst vor göttlicher Strafe oder Gemeinschaftsausschluss führt hingegen zu einer Verzerrung dieser Entwicklung.

In der Erziehung und in der Gemeinschaftspraxis muss es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Respekt vor dem Heiligen und der Anerkennung der individuellen emotionalen und psychologischen Grenzen geben, um eine gesunde Entwicklung und Integration des Kindes in seine soziale und spirituelle Umwelt zu ermöglichen.

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