Megaphon, Politiker, Schafe

Shaming 2/2 – Der Wandel der öffentlichen Beschämung und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft

Öffentliches Shaming verstehen und abwehren

Einleitung

Nach dem Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Beschämung in der letzten Woche zielt der folgende Blog-Post zielt darauf ab, ein psychologisches Verständnis dieser komplexen Themen zu entwickeln, indem er die psychologischen Wurzeln als auch die sozialen und politischen Implikationen von öffentlichem Shaming untersucht. Er soll Einblicke bieten, die zur Reflexion und möglicherweise zur konstruktiven Auseinandersetzung mit diesen allgegenwärtigen Phänomenen unserer Zeit anregen.

Definitionen und Abgrenzungen

Persönliches Shaming

Persönliches Shaming bezieht sich auf den Akt der öffentlichen Demütigung oder Kritik einer Person für Überzeugungen, Handlungen oder Eigenschaften, in der Absicht, sie bloßzustellen und ihr das Gefühl zu geben, verächtlich und unwürdig zu sein. Diese Art von Beschämung, eine Art des Mobbings, tritt in verschiedenen Kontexten auf, innerhalb von Familien, Gemeinschaften oder Online-Plattformen. Beim persönlichen Shaming geht es darum, jemanden bewusst auf Fehler, Schwächen oder vermeintliche Unzulänglichkeiten zu reduzieren. Triebfedern sind Wut, Überheblichkeit oder der Wunsch, jemanden herabzusetzen.

Persönliches Shaming findet in einer Vielzahl von Kontexten statt und kann durch unterschiedliche Auslöser hervorgerufen werden. Es tritt häufig in sozialen Beziehungen und Gemeinschaften auf, wo individuelle Handlungen oder Charaktereigenschaften im Widerspruch zu den erwarteten Normen oder Werten stehen. In der Familie, am Arbeitsplatz oder innerhalb von Peer-Gruppen kann persönliches Shaming als Reaktion auf Verhaltensweisen erfolgen, die als unangemessen, unethisch oder enttäuschend angesehen werden. Online-Plattformen haben eine neue Arena für persönliches Shaming geschaffen, in der Kommentare, Bilder oder Videos, die als peinlich oder anstößig betrachtet werden, schnell eine breite Öffentlichkeit erreichen und zu einer intensiven Beschämung führen können. Die Anonymität des Internets kann dabei die Schwelle für beschämende Äußerungen senken und die Intensität und Reichweite der Beschämung verstärken. Persönliches Shaming wird oft durch die Wahrnehmung ausgelöst, dass jemand soziale Regeln bricht, persönliche Grenzen überschreitet oder durch sein Verhalten das Wohlbefinden anderer beeinträchtigt. Dabei spielt die Absicht, die hinter dem Shaming steht – ob zur Korrektur, aus Wut oder als Mittel der Ausgrenzung – eine wesentliche Rolle bei den Auswirkungen, die es auf die betroffene Person hat.

Persönliches Shaming kann in vielfältigen Formen auftreten, die sich auf unterschiedliche Aspekte des Lebens einer Person beziehen. Hier sind einige konkrete Beispiele:

Soziale Medien

Eine der häufigsten Plattformen für persönliches Shaming ist das Internet, insbesondere soziale Medien. Ein Beispiel hierfür ist das Teilen peinlicher Fotos oder Videos ohne Zustimmung der abgebildeten Person, um diese öffentlich bloßzustellen oder zu verspotten. Ebenso kann das Verbreiten von Gerüchten oder unwahren Behauptungen über jemanden auf sozialen Netzwerken dessen Ruf und Selbstwertgefühl erheblich schädigen.

Schule und Arbeitsplatz

In Schulen oder am Arbeitsplatz tritt persönliches Shaming als Spott, Klatsch oder Lügen über jemandes Fähigkeiten, Leistungen oder persönliches Leben in Erscheinung. Lehrer oder Vorgesetzte, die jemanden vor anderen für Fehler oder Mängel kritisieren, ohne Raum für eine konstruktive Auseinandersetzung zu lassen, betreiben ebenfalls eine Form von persönlichem Shaming.

Familie und Freunde

Persönliches Shaming gibt es auch in familiären oder freundschaftlichen Beziehungen, durch abwertende Kommentare über das Aussehen, die Lebensentscheidungen oder das Verhalten. Solche Bemerkungen, die oft unter dem Deckmantel der „Sorge“ oder „ehrlichen Meinung“ erfolgen, beschädigen das Selbstbild und die Selbstachtung der Betroffenen.

Öffentlichkeit

Persönliches Shaming geschieht auch der Öffentlichkeit, wenn jemand, etwa in einem Restaurant oder Geschäft, wegen seines Verhaltens oder Aussehens lautstark herabgesetzt wird. Diese öffentliche Bloßstellung verursacht tiefe Scham und Verlegenheit und hat langfristige Auswirkungen auf das Selbstvertrauen.

Online-Bewertungsplattformen

Negative Bewertungen oder Feedback über jemandes berufliche Leistung oder Dienstleistungen auf Online-Plattformen, kann ebenfalls eine Form von persönlichem Shaming darstellen, insbesondere bei persönlicher und unsachlicher Kritik.

Diese Beispiele verdeutlichen, wie persönliches Shaming durch verschiedene Kanäle und in unterschiedlichen Lebensbereichen auftreten kann. Die Auswirkungen von persönlichem Shaming sind oft weitreichend und beeinträchtigen das Selbstwertgefühl, die psychische Gesundheit und die sozialen Beziehungen der betroffenen Person erheblich.

Politisches Shaming

Bei politischem Shaming hingegen dient Beschämung dazu, um Einzelne oder Gruppen für ihre politischen Überzeugungen, Handlungen oder Strategien verächtlich zu machen und zu verurteilen. Es findet in einem größeren Rahmen statt, etwa des öffentlichen Diskurses und der Medienberichterstattung. Politisches Shaming hebt Meinungsverschiedenheiten hervor, um sozialen Druck auszuüben oder Unterstützung für bestimmte politische Ziele zu mobilisieren. Es kann sich gegen Politiker, Personen des öffentlichen Lebens, gesellschaftliche Gruppen oder ganze politische Bewegungen richten und versucht in manipulativer Absicht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, Aufmerksamkeit zu lenken oder einen politischen Wandel herbeizuführen.

Politisches Shaming umfasst eine breite Palette von Praktiken, hier sind einige Beispiele:

Politische Debatten

Parlamentsdebatten sind eine traditionelle Plattform, wo Politiker mit rhetorischen Mitteln Gegner direkt beschämen, indem sie deren Entscheidungen, Kompetenz oder moralische Integrität infrage stellen. Ziel ist es, das öffentliche Image des Gegners zu schädigen und die eigene Position zu stärken.

Medien-Kampagnen

Gegenwärtig nutzen Regierung der westlichen Länder klassische und digitale Medien für massive Kampagnen gegen Gruppierungen, politische Figuren oder Parteien, indem sie deren Handlungen, Äußerungen oder politische Standpunkte öffentlich anprangern. Diese Kampagnen versuchen virale Hashtags zu nutzen, um Aufmerksamkeit zu generieren und öffentlichen Druck aufzubauen.

Parodien und Satire

Komiker, Satiriker und Künstler haben seit einiger Zeit, bezahlt von Regierungen, Parodien und satirische Darstellungen unerträglich missbraucht, um gesellschaftliche Gruppen auszugrenzen oder politische Persönlichkeiten und deren Handlungen lächerlich zu machen oder zu entwerten. Durch Übertreibung und Humor werden politische Interessen verdeckt und die Betroffenen öffentlich beschämt.

Diese Beispiele für politisches Shaming zeigen, wie vielfältig die Methoden sind, mit denen öffentliche Beschämung in den Dienst von Machtausübung und Druck in der politischen Arena gestellt wird. Während politisches Shaming als Bestandteil der Propaganda wirksam Aufmerksamkeit für bestimmte Anliegen generiert, führt es aber gleichzeitig, wegen seiner Unaufrichtigkeit zu Widerstand und einer Spaltung innerhalb der Gesellschaft.

Öffentliches Shaming verstehen: Dynamiken erkennen

Persönliches und politisches Shaming versuchen beide, einen Betroffenen öffentlich verächtlich zu machen. Persönliches Shaming konzentriert sich in erster Linie auf das Verhalten oder den Charakter der Betroffenen, während sich politisches Shaming auf breitere politische Überzeugungen, politische Maßnahmen und systemische Fragen erstreckt.

Politische Beschämung lenkt absichtsvoll von realistischen und praktischen Möglichkeiten zur Veränderung der Gesellschaft ab und ist oft ein integraler Bestandteil der Propaganda, die vermeintlich magische Lösungen für Krisen beschwört. Beschämung mag kurzfristig eine „Wohlfühl-Lösung“ bieten, während sie langfristige Veränderungen zu verhindern sucht.

Insbesondere Regierungsparteien setzen Shaming ein, um Schuld auf andere, einschließlich Minderheiten und Kritiker, zu schieben, und durch politische Polarisierung Anhänger für die eigene Regierungspolitik zu rekrutieren.

Shaming-Narrative und Machtstrukturen

Shaming-Narrative spielen eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung und Verstärkung politischer Machtstrukturen im Neoliberalismus. Diese Narrative sind oft subtil und tief in den Diskursen verankert, die individuelle Verantwortung, Leistung und Erfolg betonen, während strukturelle Ungleichheiten und Machtverhältnisse minimiert oder ignoriert werden. Im Kern dieser Dynamik steht die Verwendung von Beschämung als Mittel, um bestimmte politische und wirtschaftliche Ideologien zu fördern und Kritik oder Widerstand zu unterdrücken. Äußere Angst vor sozialem Abstieg oder Existenzverlust soll damit in Binnenangst verwandelt werden.

Im Neoliberalismus ist daher überall die Rede von individueller Verantwortung und Selbstmanagement. Shaming-Narrative werden eingesetzt, um Menschen für ihr Scheitern in einem System verantwortlich zu machen, das von strukturellen Ungleichheiten geprägt ist. Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung werden als persönliches Versagen dargestellt, anstatt als Ergebnis von ökonomischen Bedingungen oder politischen Entscheidungen. Diese Narrative verstärken die Idee, dass Erfolg lediglich eine Frage der richtigen Wahl und Anstrengung ist, und blenden die Realität aus, dass nicht alle Individuen die gleichen Startbedingungen oder Möglichkeiten haben.

Durch die Beschämung von Individuen, die den neoliberalen Idealen von Erfolg und Produktivität nicht entsprechen, werden diese Ideologien weiter gefestigt. Die Stigmatisierung von Sozialleistungsempfängern oder marginalisierten Gruppen dient dazu, die Akzeptanz für Kürzungen im Sozialbereich zu erhöhen und den Rückzug des Staates aus der Wohlfahrtspflege zu legitimieren. Gleichzeitig wird das Ideal des unternehmerischen Selbst gefördert, das flexibel, selbstverantwortlich und ständig bestrebt ist, seine Marktfähigkeit zu verbessern.

Shaming-Narrative dienen auch dazu, Kritik an neoliberalen Politiken und Praktiken zu unterdrücken. Indem man Protestierende oder Kritiker als faul, uninformiert oder als Störer des öffentlichen Friedens brandmarkt, werden deren Anliegen diskreditiert und marginalisiert. Dies trägt dazu bei, den Status quo aufrechtzuerhalten und potenziellen Widerstand zu schwächen.

Im Kontext der Digitalisierung begünstigt die neoliberale Propaganda eine dramatische Zunahme fanatischer gruppenbezogener Feindseligkeit, einschließlich Hassreden und extremer Ideologien. Die Zunahme dieser Narrative führt dazu, dass Scham und negative Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen sich verfestigen.

Die Psychologie hinter Shaming: Macht, Unsicherheit und das Bedürfnis nach Kontrolle

Macht

Die psychologische Wurzel der Beliebtheit von Shaming bei Tätern ist das Bedürfnis nach Bestätigung und Respekt. Beschämungstechniken können auch von dem Wunsch motiviert sein, sich mächtig zu fühlen. (Hingegen resultieren Schamgefühle aus dem wahrgenommenen Verlust sozialer Attraktivität und dienen als Warnsignal für die Bedrohung der eigenen Macht und des eigenen Status in der Gesellschaft.)

Shaming ist bei politischen Akteuren beliebt, weil es die gemeinsame Verurteilung von Gegnern fördert. Die Folge ist ein In-Gefühl, eine Illusion von Solidarität. Ein weiterer Grund ist, dass Beschämung als Alibi dienen kann, um die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken. Beschämung anderer erspart so Selbstreflexion oder Verantwortlichkeit für eigenes Handeln in einer bestimmten Situation.

Alibi

Dieses Motiv ist oft im persönlichen Kontext zu beobachten. Der Einzelne verweigert eigene Verantwortlichkeit. Beschimpfungen verschieben Schuld und Verantwortung auf Adressaten. Auf diese Weise kann jeder Selbstbeobachtung und Selbstreflexion vermeiden und muss sich keinen schwierigen Fragen über eigene Rollen und Beiträge zu einer Situation oder einem Problem stellen. Durch diese Verweigerung von Selbstverantwortung lässt sich ein positives Selbstbild aufrechterhalten.

Auch in der Politik dient die Beschämung von politischen Gegnern oder deren Anhängern Regierungen, die selbst die größte Rolle bei der Entstehung oder Aufrechterhaltung der betreffenden Probleme gespielt haben, der Verantwortungsverweigerung. Die Beschuldigungen verhindern die Prüfung des Regierungshandelns, das die Probleme verursacht oder verschlimmert hat.

Unsicherheit

Erich Fromm, Sozialpsychologe und Philosoph, prägte den Begriff des autoritären Charakters, um die Persönlichkeitsstruktur von Individuen zu beschreiben, die dazu neigen, Autorität zu idealisieren und sich ihr zu unterwerfen, während sie gleichzeitig nach unten treten und Schwächere oder Andersdenkende unterdrücken. Dieses Konzept ist eng verknüpft mit der Psychologie des öffentlichen Shamings, insbesondere in der Art und Weise, wie es gegen Andersdenkende eingesetzt wird.

Der autoritäre Charakter neigt zu starren Schwarz-Weiß-Denkmustern, die komplexe soziale Realitäten in einfache Hierarchien und Ordnungen auflösen. Zur Bekämpfung derer, die als außerhalb dieser Ordnung stehend, oder als ihr Gegner wahrgenommen werden, ist ihm jedes Mittel recht – allerdings wegen seiner Feigheit selten die offene Diskussion. Öffentliches Shaming dient diesen Charakteren, wenn sie sich als Untertanen der Macht sicher oder in der Mehrheit fühlen, als Werkzeug, um Konformität zu erzwingen und die eigene Position innerhalb der angenommenen Hierarchie zu stärken.

Die Psychologie hinter diesem öffentlichen Shaming von Andersdenkenden wächst aus dem Bedürfnis, Unsicherheiten und Ängste zu bewältigen, indem man eine klare Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“ zieht. Durch die Beschämung abweichender Meinungen, will der autoritäre Charakter seine eigene Weltanschauung bestätigen und gleichzeitig eine Illusion von Überlegenheit und Sicherheit schaffen. Dieser Prozess verstärkt die soziale Kohäsion innerhalb der Gruppe, die die entsprechenden Normen teilt, und marginalisiert gleichzeitig diejenigen, die als Bedrohung für diesen Zusammenhalt wahrgenommen werden.

Feindbilder

Hans Blumenberg hat zwar nicht direkt zum Konzept des autoritären Charakters beigetragen, wie es ursprünglich von Erich Fromm und später von Theodor W. Adorno und anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule entwickelt wurde, aber seine Arbeiten bieten dennoch wertvolle Einblicke in Zusammenhänge zwischen Autorität, Mythos und Rationalität, die für ein Verständnis des autoritären Charakters und der Psychologie des öffentlichen Shamings andersdenkender bedeutsam sind.

Besonders seine umfassenden Untersuchungen Metaphern und Mythen tragen zum Verständnis der psychologischen Dynamiken betrachtet werden, die dem autoritären Charakter und der öffentlichen Beschämung zugrunde liegen. Blumenberg argumentiert, dass Mythen und metaphorische Sprache grundlegende menschliche Bedürfnisse ansprechen, um die Welt verstehbar und handhabbar zu machen. Das macht sie für autoritäre Charaktere attraktiv, die, wie eben geschildert, einfache, Schwarz-Weiß-Weltbilder bevorzugen, und komplexe Realitäten in gut/böse oder wir/sie Kategorien unterteilen.

Ob Pandemien, Klima oder Kriege, die Propaganda der westlichen Regierungen nutzt seit der Covid-Pandemie überaus gern starke Metaphern und Mythen in ihrer politischen Rhetorik, um einerseits Autorität zu etablieren und andererseits andersdenkende öffentlich zu beschämen. Wie autoritäre Führer nutzen sie eine Sprache des Mythos – etwa die Vorstellung von einer bedrohten Gemeinschaft, die vor externen oder internen Feinden geschützt werden müsse –, um ihre Macht zu festigen und eine klare Trennlinie zwischen „uns“ und „den Anderen“ zu ziehen. Diese rhetorische Strategie spricht tief verwurzelte Ängste und Bedürfnisse nach Sicherheit und Zugehörigkeit an und fördert eine unkritische Akzeptanz von Autorität.

Die öffentliche Beschämung von Andersdenkenden in diesem Kontext dient nicht nur der Unterdrückung von Dissens, sondern auch der Stärkung der kollektiven Identität der „Ingroup“ durch die Abgrenzung von der „Outgroup“. Indem sie diejenigen, die von der offiziellen Linie abweichen, als moralisch verwerflich, gefährlich oder unwürdig darstellen, nutzt diese autoritäre Rhetorik und deren Anhänger die Mechanismen der Beschämung, um die soziale Kohäsion ihrer Anhängerschaft zu stärken und gleichzeitig die Grundlagen für rationale Diskurse und pluralistische Gesellschaftsstrukturen zu untergraben. Sie nutzt diese narrativen Strukturen, um Macht zu konsolidieren und Opposition zu schwächen.

Sie nutzt das Gefühl der Überforderung aus, wenn alles „auf einmal“ zu passieren scheint oder wenn sich vergangene Ereignisse genauso unmittelbar anfühlen wie aktuelle. Dann wird plötzlich die Lebenszeit mit der Weltzeit konfrontiert. Die Weltzeit repräsentiert die objektive, historische Zeit, die großen gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Veränderungen und Ereignisse umfasst. Sie ist unabhängig vom individuellen Erleben und schreitet voran, ohne Rücksicht auf persönliche Wünsche, Hoffnungen oder Ängste zu nehmen. Die individuelle Zeit hingegen ist die persönliche Erfahrung von Zeit, die durch das eigene Leben, die eigenen Erfahrungen und die persönliche Entwicklung geprägt ist.

Der Zusammenhang zwischen Weltzeit (Weltzeit) und individueller Zeit (Lebenszeit), wie er in den Überlegungen zum autoritären Charakter und der Psychologie des öffentlichen Shamings Andersdenkender betrachtet werden kann, spielt eine entscheidende Rolle im Verständnis der Dynamiken, die autoritäre Persönlichkeiten dazu verleiten, Andersdenkende zu bekämpfen. Dieser Kontrast zwischen der persönlichen Erfahrung von Zeit und der objektiven, historischen Zeit birgt ein tiefes Spannungsfeld, das autoritäre Neigungen sowohl fördern, als auch verstärken kann.

Autoritäre Charaktere zeichnen sich aber durch ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle und Ordnung aus, das sich nicht nur auf ihre unmittelbare Umgebung, sondern auch auf die größere gesellschaftliche Ordnung erstreckt. Die Diskrepanz zwischen der Weltzeit, die sich ihrer Kontrolle entzieht, und der individuellen Zeit, in der sie Macht und Einfluss ausüben können, schafft eine Quelle der Angst und Unsicherheit. Um diese Unsicherheit zu bewältigen, versuchen autoritäre Charaktere, starre Strukturen und klare Unterscheidungen zwischen „wir“ und „die anderen“ zu etablieren.

Die Bekämpfung von Andersdenkenden ist der Versuch, die Unberechenbarkeit der Weltzeit zu kontrollieren und die eigene Vorstellung von Ordnung auf die gesellschaftliche Ebene zu übertragen. Indem sie Personen oder Gruppen, die abweichende Meinungen vertreten, öffentlich beschämen oder bekämpfen, versuchen sie, eine homogene soziale Ordnung zu schaffen, die ihre eigene Unsicherheit minimiert und ihr Bedürfnis nach Kontrolle befriedigt. Diese Strategie ermöglicht es ihnen, eine Illusion der Einheit und Stabilität zu erzeugen, indem sie die Komplexität und Vielfalt menschlicher Erfahrungen und Perspektiven reduzieren.

Geltungssucht

Nicht nur den Anhängern der radikalen Klimaschutzbewegung fällt es schwer hinzunehmen, dass der beste Zustand der Welt immer erst in einer unerreichbaren Zukunft eintritt. Doch genau das ist das Ergebnis des unterschiedlichen Verhältnisses zwischen den Lebenszeiten der Menschen und dem Verlauf der Geschichte. Dieses Missverhältnis zwischen der Lebenszeit und der Weltzeit erzeugt Gefühl des Unbehagens, des Sinnverlusts und auch der Missgunst, dass Manchen dazu veranlasst, neue Erzählungen – Metaphern oder sogar Mythologien – zu suchen, um der eigenen Existenz einen überindividuellen Sinn zu geben.

Es ist darum die erstaunliche Tendenz zu beobachten, dass junge Menschen felsenfest an den Weltuntergang glauben, und daran, wie er ihr eigenes Leben unzumutbar beeinträchtigt. Dabei projizieren sie eigene Trostlosigkeit auf einen vorgestellten Weltzustand, die aus der Ödnis und Belanglosigkeit ihrer spießbürgerlichen Lebenswirklichkeit resultiert. Folglich entdecken sie alle Arten Bedrohungen durch die ältere Generation oder „fossile Brennstoffe“. Und der vermeintliche Weltuntergang dient ihnen dann als Rechtfertigung für die Forderung, ihre mythologisierten Zukunftsvorstellungen – mit zunehmend radikaleren Mitteln – noch zu ihren Lebzeiten zu erzwingen. Bei allem Radikalismus und Aktionismus hat diese Ideologie aber tief in ihrem Inneren nur den einigermaßen kindlichen Wunsch, noch zu Lebzeiten die vollständige Befreiung von allen Bedrängnissen durch den endgültigen Sieg des Guten noch selbst zu erleben. Dazu ist dann jedes Mittel recht, alles, was ist, zu zerschlagen und jeden Meinungsgegner bloßzustellen und mundtot zu machen.

Dabei führt die mythische, grob vereinfachte Schwarz-Weiß-Weltsicht unweigerlich Lösungsvorschlägen in Schwarz-Weiß und zu einer Polarisierung, bei der sich Debatten eher um ein Entweder-Oder statt um vielschichtige Lösungen drehen. Wer den medialen und politischen Diskurs in Begriffenen eines mythischen Endkampfs zwischen Gut und Böse führt – man selbst ist dabei natürlich der Vertreter des Guten – will nur öffentlich vertretenen Meinungen, die in dieser alten dualistischen Erzählung verankert sind, Bedeutung verschaffen. Das unerschütterliche Bekenntnis zum Einsatz aller verfügbaren Mittel gegen die Mächte des Bösen schließt schon immer jede Möglichkeit alternativer Ziele aus und betrachtet das eigene Handeln als das einzig Richtige – Schande über jeden, der das infrage stellt.

In einem solchen Rahmen tappt die überhebliche Selbstgerechtigkeit in die Falle der Ungeschichtlichkeit und des absoluten Narzissmus. Das Argument, dass eine Situation nur darum nicht mehr hingenommen werden darf, weil sie seit Langem hingenommen wurde, ist zwar einleuchtend, aber trotzdem unlogisch. Wer die vollständige Zerstörung des gegenwärtigen Zustands fordert, muss den Beweis für die Berechtigung seiner Forderung antreten. Glauben reicht dafür nicht, ebenso wenig Anschuldigungen, Etikettierung und Beschämung von Meinungsgegnern. Folgerichtig macht der egozentrische Mangel an geschichtlichem Bezug den Weg aus den aktuellen Krisen auch nur scheinbar bequem. Letztlich führt er zu schädlichen Ergebnissen.

Die Spannung zwischen Weltzeit und individueller Zeit bietet einen fruchtbaren Boden für autoritäre Tendenzen und die Praxis des öffentlichen Shamings von Andersdenkenden. Indem autoritäre Charaktere versuchen, die Dynamik der Weltzeit durch die Bekämpfung von Abweichungen in der individuellen Zeit zu kontrollieren, offenbaren sie lediglich ihre tiefe Verunsicherung und ihr Unbehagen gegenüber der Unvorhersehbarkeit und Komplexität der modernen Welt. Dieses Verhalten untergräbt nicht nur die pluralistischen Grundlagen der Demokratie, sondern verstärkt auch die Entfremdung und Polarisation innerhalb der Gesellschaft, indem es die Möglichkeit eines offenen, respektvollen und vielfältigen Diskurses einschränkt.

Vom Shaming zur Stärke

Der Einzelne kann soziale und kulturelle Überzeugungen, die zur Scham beitragen, erkennen und infrage stellen, indem er sich auf kritische Bewusstwerdungs- und Bewusstseinsbildungsprozesse einlässt. Dazu gehören Fragen wie „Wer bin ich?“, „Wer sagt das?“, „Wer profitiert von dieser Definition?“ und „Was muss sich ändern und wie?“ in Bezug auf eine Schamerfahrung. Sie helfen, soziale und kulturelle Überzeugungen, die zu Scham beitragen, zu erkennen und zu hinterfragen, wie die sozialen und kulturellen Kräfte eigene Erfahrungen prägen. So können Betroffene ihre persönlichen Erfahrungen mit größeren sozialen und kulturellen Themen in Verbindung bringen, Beschämungen dekonstruieren und kontextualisieren. Fragen wie „Wer bin ich?“, „Wer sagt das?“, „Wer profitiert von dieser Definition?“ und „Was muss sich wie ändern?“ hinterfragen vorherrschende Narrative und Machtstrukturen, die die Beschämung ermöglichen. Diese Art Befragung wird regelmäßig nachweisen, dass Erfahrungen mit Scham nicht nur von persönlichen Fehlern verursacht, sondern von größeren kollektiven Problemen geprägt sind. Sie ermöglicht es, eigene Erfahrungen zu normalisieren, und die sozialen und kulturellen Erwartungen zu erkennen, die bestimmte Kategorien wie Aussehen, Körperbild, Sexualität, Familie oder Erfolg eng definieren. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Überzeugungen, Normen und Werten, die Schamerfahrungen zugrunde liegen, kann der Einzelne ein tieferes Verständnis dafür gewinnen, wie diese kulturellen Konstrukte sein Selbstwertgefühl und seine Akzeptanz beeinflussen.

Es ist wichtig, öffentliche Beschämungstaktiken auseinanderzunehmen und sie mit größeren gesellschaftlichen Problemen in Verbindung zu bringen, anstatt sie zu verinnerlichen. Auf diese Weise wird erkennbar, dass Scham in jedem Fall ein psychosoziales und kulturelles Konstrukt ist. Diese Sichtweise ermöglicht es Betroffenen, Narrative zu hinterfragen, die sie als von Natur aus schlecht oder fehlerhaft abzustempeln versuchen. Stattdessen gilt es, gezielte Beschämung als gebunden an gesellschaftliche Normen und Erwartungen zu betrachten.

Darüber hinaus müssen die Betroffenen ihre eigenen Gedanken und Annahmen prüfen, falsche oder verzerrte Überzeugungen hinterfragen und konstruktive Selbstbewertungen zu entwickeln. Auch Selbstmitgefühl, Selbstakzeptanz und Vergebung sind in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, sich gegen öffentliches Shaming zu wehren und zu stärken.

Praxis

Unterstützung

Das Zusammensein oder das Gespräch mit anderen Betroffenen, die ähnliche Situationen durchlebt haben, ist eine wirksame Strategie zur Überwindung von Beschämung. Solche Menschen gewähren Unterstützung, Einfühlungsvermögen und Zugehörigkeit und können helfen, den Schamschmerz zu überwinden und zu erkennen, dass niemand mit solchen Erfahrungen allein ist.

Erkenntnis

Die Scham-Resilienz-Theorie besagt, dass die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins für die Überwindung von öffentlichem Shaming wesentlich ist. Das fordert das Erkennen und Hinterfragen sozialer und kultureller Überzeugungen, die zu Scham beitragen, und persönlicher Schwachstellen, die anfällig für Beschämung machen.

Selbstakzeptanz

Indem man sich der eigenen Verletzlichkeit öffnet und die Erfahrung von Scham akzeptiert, kann man ein größeres Einfühlungsvermögen für sich selbst und andere entwickeln. Ein Wechsel von Scham zu Selbstakzeptanz erlaubt persönliches Wachstum.

Abstand

Nehmen Sie Abstand von Personen und Gemeinschaften, die versuchen, Sie zu beschämen. Das kann im Einzelfall sogar bedeuten, dass man sein soziales Umfeld wechseln muss oder in eine neue Gegend oder Stadt zieht. Abstand von ständigen Erinnerungen an Beschämung ist die Grundlage für einen Neuanfang.

Übungen

Die Bewältigung öffentlicher politischer oder persönlicher Beschämung erfordert ein tiefes Verständnis der psychologischen Mechanismen, die unsere Reaktionen auf negative Erfahrungen steuern.

Hier folgen zudem einige Übungen, die helfen können, die persönlichen Auswirkungen zu mindern und Schamresilienz zu fördern. Sie zielen darauf ab, automatische Gedanken zu erkennen und zu hinterfragen, die Bewusstheit zu steigern.

Reflexion

– Ziel: Stärkung der Selbstwahrnehmung und Identifizierung von Mustern.

– HOW-TO: Nehmen Sie sich jeden Tag Zeit, um über Ihre Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen nachzudenken. Versuchen Sie, Muster zu erkennen, die zu negativen Emotionen führen.

Gedankenprotokoll

– Ziel: Erkennen und Herausfordern negativer automatischer Gedanken.

– HOW-TO: Führen Sie ein Tagebuch, in dem Sie automatische negative Gedanken notieren, sobald sie auftreten. Schreiben Sie die Situation auf, den Gedanken, die emotionale Reaktion und alternative, positive Gedanken.

Perspektivwechsel

– Ziel: Entwicklung von Empathie und Verständnis unterschiedlicher Standpunkte.

– HOW-TO: Stellen Sie sich jemand anderen in der Beschämungssituation vor. Wie würde er denken und fühlen? Was würde er Ihnen raten?

Körperbewusstsein

– Ziel: Entwicklung einer positiven Körperwahrnehmung und Stärkung des Selbst.

– HOW-TO: Nutzen Sie täglich körperliche Aktivität, Achtsamkeits- oder Yogaübungen, um eine Verbindung zu Ihrem Körper und Ihrer Stärke herzustellen.

Visualisierung

– Ziel: Mentale Stärkung durch positive Visualisierung.

– HOW-TO: Stellen Sie sich vor, wie Sie erfolgreich mit schwierigen Situationen umgehen und Erfolge erringen.

Die Umsetzung solcher Übungen in den Alltag erfordert Kraft und Geduld. Machen Sie kleine Schritte, und konzentrieren Sie sich auf eine Übung, bevor Sie zur nächsten übergehen. Unterstützung durch einen Therapeuten oder Coach kann ebenfalls sehr wertvoll sein, um solche Techniken effektiv anzuwenden und anzupassen. Vergessen Sie vor allem nie: Wachstum braucht Zeit.

Literatur:

Agamben, Giorgio. 1998. Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life. Stanford, California: Stanford University Press.

Amlinger, Carolin, and Oliver Nachtwey. 2022. Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Blumenberg, Hans. 2006. Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Blumenberg, Hans. 2011. Paradigms for a Metaphorology. Ithaka, New York: Cornell University Press.

De Paola, Heitor. 2001. “Envy, jealousy and shame.” The International Journal of Psychoanalysis 82 381–84.

Deleuze, Gilles. 2020. “Postskriptum über die Kontrollgesellschaften.” In Unterhandlungen, 254–62. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

English, Fanita. 1975. “Shame and social control.” Transactional Analysis Journal 5 (1): 24–28.

Han, Byung-Chul. 2014. Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Kindle Ausgabe. S. Fischer Verlag.

Hirsch, Mathias. 2008. “Scham und Schuld – Sein und Tun.” Psychotherapeut 53 (3): 177–84.

Hochschild, Arlie Russell. 2018. Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right. New York: The New Press.

Klein, Melanie. 1984. Love, Guilt, and Reparation, and Other Works, 1921-1945. New York: The Free Press.

Morrison, Andrew P. 1983. “Shame, Ideal Self, and Narcissism.” Contemporary Psychoanalysis 19 (2): 295–318.

Scheff, Thomas J. 2000. “Shame and the social bond: A sociological theory.” Sociological Theory 18 (1): 84–99.

Tangney, June P. 2002. “Perfectionism and the Self-Conscious Emotions: Shame, Guilt, Embarrassment, and Pride.” In Perfectionism: Theory, research, and treatment, 199–215. Washington: American Psychological Association.

Tiedemann, Jens L. 2008. “Die intersubjektive Natur der Scham.” Forum der Psychoanalyse 24 (3): 246–63.

Voegelin, Eric. 2012. Science, Politics and Gnosticism: Two Essays. Washington D.C.: Regnery Publishing.

Williams, Bernard. 2015. Scham, Schuld und Notwendigkeit: Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Berlin: Walter de Gruyter.

Wurmser, Leon. 2011. Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin – Heidelberg: Springer.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert