Der Hassschwur gegen Henry Symeonis – wie ein Mordfall im Mittelalter zu einem Erinnerungsritual wurde
Der Hassschwur gegen Henry Symeonis – wie ein Mordfall im Mittelalter zu einem Erinnerungsritual wurde
Der Hassschwur gegen Henry Symeonis
Veröffentlicht am:
11.07.2025


Über 550 Jahre lang mussten Oxford-Studierende einen Eid gegen einen längst vergessenen Feind leisten: Henry Symeonis. Eine historische Fallstudie über symbolische Ordnung, institutionelle Kränkungen und die stille Macht akademischer Rituale.
Der Oxforder Hassschwur – wenn eine Universität wie die von Oxford in die Nähe von Hogwarts gerät
Einleitung: Wie aus einem Kriminalfall ein akademischer Mythos wurde
Oxford – dieser Name ruft Bilder hervor: feierliche Hallen, Gelehrte in schwarzen Talaren, Jahrhunderte des Denkens, Forschens und Diskutierens. Wer an diese traditionsreiche Universität denkt, denkt an Exzellenz, nicht an Verbitterung. Und doch verbirgt sich hinter der neogotischen Kulisse ein erstaunliches Kapitel institutionalisierter Rachsucht – eine Geschichte, die mehr mit kollektiver Kränkung als mit akademischer Redlichkeit zu tun hat.
Über fünfhundert Jahre lang mussten angehende Master-Studierende in Oxford einen Eid leisten, in dem sie erklärten, einen bestimmten Mann zu verachten: Henry Symeonis. Kein König, kein Ketzer, kein Feind der Aufklärung – sondern ein städtischer Bürger, der im Jahr 1242 einen Studenten getötet haben soll. Die Umstände des Verbrechens sind ebenso unklar wie seine politische Bedeutung – doch die Reaktion der Universität war eindeutig. Sie verzieh nicht. Nicht nach zehn Jahren, nicht nach hundert. Stattdessen hielt sie an einer symbolischen Sanktion fest, die über Generationen hinweg erneuert wurde.
Warum sollte eine Institution, die sich der Vernunft verschrieben hat, ein halbes Jahrtausend lang an einem Akt kollektiver Abneigung festhalten? Die Antwort liegt nicht allein im historischen Detail, sondern in der Struktur institutionellen Gedächtnisses. Was als individueller Gewaltakt begann, wurde zur Chiffre für den Konflikt zwischen akademischer Autonomie und königlicher Macht. Die Universität widersetzte sich der königlichen Begnadigung des Täters – und verwandelte ihren Groll in ein Ritual. Damit verschob sich die Bedeutung des Eides: Er galt nicht mehr dem Täter, sondern wurde zur Loyalitätsprüfung innerhalb der akademischen Gemeinschaft. Wer den Eid leistete, erklärte sich einverstanden mit der Überzeugung, dass die Universität niemals nachgeben dürfe – nicht einmal im Namen der Gnade.
Diese Geschichte ist mehr als eine Kuriosität. Sie offenbart, wie tief Institutionen Kränkungen einschreiben können – nicht durch Argumente, sondern durch Rituale. Der Schwur gegen Henry Symeonis war nie nur ein Erinnerungsakt; er war eine identitätsstiftende Erzählung, eine performative Wiederholung eines einstigen Unrechts, das nicht losgelassen wurde. Gerade weil niemand mehr wusste, wer Symeonis eigentlich war, konnte er zum perfekten Feindbild werden: ahistorisch, emotionsgeladen, ungefährlich – und dadurch umso wirkungsvoller als Projektionsfläche.
Es ist bemerkenswert, wie lange ein solches Ritual überleben kann, obwohl sein Inhalt längst entleert wurde. Diese Form der symbolischen Selbstvergewisserung ist keine Ausnahme, sondern ein verbreitetes Muster: Wo eine Institution einst verletzt wurde – sei es durch politischen Druck, externe Eingriffe oder innere Konflikte –, bleibt oft eine symbolische Narbe zurück. Die ursprüngliche Kränkung wird dabei nicht gelöscht, sondern verkapselt. Der Schwur gegen Henry Symeonis wurde zu einer Art narzisstischer Narbe: sichtbar gehalten, um nicht zu vergessen – und zugleich so sehr Teil des Systems geworden, dass er nicht mehr hinterfragt wurde.
Und so wurde aus einem historischen Nebenschauplatz ein Lehrstück über die Langzeitwirkungen von Kränkung in Institutionen. Über Rituale, die nicht mehr verstanden, aber weiterhin vollzogen werden. Über die paradoxe Tatsache, dass gerade Orte, die sich der Aufklärung verpflichtet fühlen, besonders anfällig für unbewusste Wiederholungszwänge sein können. Und über die feine Linie zwischen Traditionspflege und Traditionsvergiftung.
Wer war Henry Symeonis? Und warum wurde er zum Symbol?
Henry Symeonis war kein Fürst, kein Gelehrter, kein Ketzer – sondern ein wohlhabender Bürger Oxfords, eingebettet in das städtische Patriziat des 13. Jahrhunderts. 1242 wurde er wegen der Tötung eines Studenten verurteilt – eine Tat, die aus heutiger Sicht wie ein tragisches Einzelereignis erscheinen mag, damals jedoch wie ein Streichholz in ein bereits loderndes Spannungsfeld geworfen wurde. Denn die Fronten zwischen der akademischen Elite und der lokalen Bevölkerung waren zu dieser Zeit längst verhärtet.
Die Universitätsangehörigen, meist Kleriker, unterstanden nicht dem lokalen Recht, sondern dem kirchlichen. Das hieß: Wer einen Bürger beraubte oder beleidigte, musste kaum mit Konsequenzen rechnen – ein Zustand, der in den Gassen Oxfords als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfunden wurde. Es war ein asymmetrisches Machtgefüge: Die Studierenden galten als unantastbar, die Bürger als Störfaktor. In dieser Atmosphäre konnte ein Mord zum Fanal werden. Die Tötung des Studenten – ob vorsätzlich, affektiv oder durch Eskalation – wurde zum kollektiven Trauma. Und Henry Symeonis wurde zur Chiffre: nicht mehr bloß ein Mann, sondern das Gesicht einer kollektiven Kränkung, die mit juristischer Härte beantwortet wurde.
Königliche Begnadigung – und die symbolische Machtdemonstration der Universität
Im Jahr 1264, zwei Jahrzehnte nach dem Mord, tat König Heinrich III., was in seiner Macht stand: Er begnadigte Henry Symeonis. Aus Sicht des Monarchen war der Fall abgeschlossen. Gnade war ein Instrument politischer Befriedung – ein Schlussstrich im Namen der Ordnung. Die Stadt Oxford wurde angewiesen, Symeonis wieder aufzunehmen und den Vorfall hinter sich zu lassen. Doch die Universität widersetzte sich dem königlichen Befehl – nicht laut, aber entschieden. Sie vergab nicht. Und sie vergaß nicht.
Was folgte, war keine juristische Auseinandersetzung, sondern ein Akt ritueller Selbstermächtigung: Die Universität schuf ein symbolisches Gegengewicht zur königlichen Autorität. Sie erklärte, dass sie ihre eigene Erinnerung höher wertet als die Gnade des Herrschers. Diese Erinnerung nahm die Form eines Eides an – eines Schwurs, in dem jeder angehende Master versichern musste, sich niemals mit Henry Symeonis zu versöhnen.
Damit etablierte die Universität mehr als nur ein Ritual. Sie konstruierte ein dauerhaftes Gedächtnis des Unverzeihlichen – und machte es zur Bedingung für akademische Zugehörigkeit. Jahr für Jahr, Zeremonie für Zeremonie, wurde der Schwur erneuert. Er wurde nicht hinterfragt, nicht historisiert, nicht relativiert. Der Eid wirkte wie ein Siegel auf der kollektiven Identität – ein stilles Echo institutioneller Kränkung.
Man könnte sagen: Während der König versuchte, zu befrieden, entschied sich die Universität, zu erinnern. Doch es war keine bloße Erinnerung – es war die rituelle Inszenierung von Unversöhnlichkeit. Ein Akt institutioneller Eigenmacht, der zugleich als Prüfstein diente: Nur wer den Schwur leistete, bewies seine Loyalität zur Ordnung der Universität – nicht zur Ordnung des Reichs.
Der Schwur als Ritual – Loyalität durch Wiederholung
Von da an galt eine eigenwillige Bedingung für alle, die an der Universität Oxford den Mastergrad anstrebten: Sie mussten im Rahmen ihrer Graduierungszeremonie einen Schwur ablegen – und zwar nicht etwa auf Wissen, Wahrheit oder akademische Tugenden, sondern auf Hass. Genauer gesagt: Sie mussten versprechen, sich niemals mit Henry Symeonis zu versöhnen.
Die Eidesformel war in lateinischer Sprache gehalten – wie alle offiziellen Akte der mittelalterlichen Universitätswelt. “Magister, tu jurabis quod nunquam consenties in reconciliationem Henrici Simeonis, nec statum Baccalaurei iterum tibi assumes.” („Magister, du wirst schwören, dass du niemals der Versöhnung mit Henry Symeonis zustimmen, noch erneut den Status eines Bakkalaureus annehmen wirst.“) Der Wortlaut stammt aus den Corpus Statutorum der Universität Oxford und klingt wie eine Zauberformel aus Hogwarts. In gewissem Sinn war er das auch. Die Semantik dieses Satzes verblasste über die Jahrhunderte. Was einst konkret und konfrontativ gemeint war, wurde zu einem formelhaften Akt, ebenso dadaistisch wie „Wingardium leviosa“. Niemand kannte mehr die genauen Umstände. Die Worte wurden gesprochen, ihr Sinn aber nicht mehr verstanden. Und dennoch blieb das Ritual erhalten – über Generationen, über gesellschaftliche Umwälzungen hinweg.
Man könnte meinen, ein solches Ritual sei irgendwann hinterfragt oder abgeschafft worden – doch gerade seine inhaltliche Entleerung machte es unangreifbar. Wie bei vielen überlieferten Gesten blieb der Zweck im Dunkeln, aber die Geste selbst wirkte weiter. Der Eid wurde zu einer Art ritueller Unterschrift unter das kollektive Gedächtnis der Institution. Wer ihn sprach, bekannte sich – bewusst oder unbewusst – zur emotionalen Grammatik der Universität.
Vergleichbar ist dieses Phänomen mit den rituellen Handlungen in Familien, Kirchen oder Armeen: Je leerer die Formel, desto tiefer ihre Bindungskraft. Denn wo der Inhalt vergessen wird, tritt das Tun selbst in den Vordergrund – als Identitätsversicherung gegen das Vergessen, aber auch gegen Veränderung. Der Schwur gegen Henry Symeonis wurde damit zum Paradebeispiel einer kulturellen Wiederholung, die nicht mehr erinnert, sondern nur noch wirkt.
Ein Zeichen akademischer Autonomie – oder: Die Universität gegen den Souverän
Was rückblickend wie ein seltsamer Anachronismus wirkt – ein mittelalterlicher Schwur mit einem längst vergessenen Namen – war im Kontext seiner Entstehung ein bewusster Machtakt. Die Universität Oxford setzte ein Zeichen: Sie entzog sich der Verfügung des Königs und beanspruchte, über ihre eigene Erinnerung selbst zu bestimmen. In einer Zeit, in der akademische Einrichtungen noch keine gesicherten Privilegien besaßen, war dies nichts weniger als ein Akt des institutionellen Widerstands.
Juristisch betrachtet hatte Heinrich III. seine Autorität ausgeübt. Er hatte vergeben – also sollte auch vergeben werden. Doch Oxford weigerte sich. Und in dieser Weigerung lag mehr als nur Trotz: Sie markierte den Beginn eines symbolischen Selbstbehauptungsprogramms. Die Universität erklärte sich zur moralischen Instanz, die der königlichen Vergebung die eigene Wahrheit entgegensetzte – eine Wahrheit, die nicht an Rechtslogik, sondern an Erinnerung, Groll und Identität gebunden war.
So wurde der Schwur zur performativen Grenzziehung zwischen zwei Ordnungen: der politischen Macht des Monarchen und der symbolischen Macht der Institution. Während der König Recht sprach, inszenierte die Universität Dauer. Der Eid war kein Rechtsakt, sondern ein Wiederholungsritual, das die Autonomie der akademischen Sphäre absicherte – durch Wiederholung, nicht durch Argument.
In gewisser Weise stellte Oxford damit früh eine Frage, die bis heute in jeder Universität mitschwingt: Wer hat das letzte Wort über Sinn, über Schuld, über Geschichte? Der Staat, der vergeben kann – oder die Institution, die sich weigert zu vergessen?
Der Eid ohne Erinnerung – wie Rituale das Vergessen konservieren
Über die Jahrhunderte hinweg wurde der Schwur gegen Henry Symeonis weitergereicht wie ein sakrales Relikt – lange nachdem sein Ursprung im Nebel der Geschichte verschwunden war. Für zahllose Generationen von Studierenden war er nichts weiter als eine Pflichtzeile im feierlichen Protokoll der Graduierung. Ein Satz in Latein, gesprochen mit Andacht oder Gleichgültigkeit, aber fast immer ohne Verständnis.
Keiner wusste noch, auf wen sich dieser Eid bezog, geschweige denn, warum er einst eingeführt worden war. Der Mordfall, der ihn ausgelöst hatte, war aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt – doch das Ritual blieb. Und genau darin liegt die paradoxe Kraft solcher symbolischen Handlungen: Sie erinnern nicht, sie wiederholen. Was einst als Ausdruck konkreter Empörung begann, wurde zu einem Akt reiner Form – und gerade dadurch wirksam.
So kehrte sich die ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil: Nicht das Erinnerte strukturierte das Ritual, sondern das Ritual ersetzte das Erinnern. Der Schwur funktionierte wie eine leere Geste mit autoritativem Nachhall – ein Beispiel für das, was Soziologen als „mechanisches Gedächtnis“ bezeichnen. Er war weniger Ausdruck eines bewussten Willens zur Feindseligkeit als vielmehr ein automatisierter Reflex kollektiver Zugehörigkeit.
Man könnte sagen: Die Universität hatte vergessen, warum sie sich nicht versöhnen wollte – aber sie erinnerte sich genau daran, dass sie es nicht durfte. So wurde der Schwur nicht zum Zeichen von Klarheit, sondern zum Siegel eines blinden Beharrens.
Reginald Lane Poole entdeckt die Geschichte neu – und bringt das Vergessene zurück
Es brauchte mehr als ein halbes Jahrtausend und einen scharfsinnigen Historiker, um Licht in die Schatten dieses Rituals zu bringen. Erst im Jahr 1912 stieß Reginald Lane Poole, Professor für Geschichte an der Universität Oxford, bei der Sichtung alter Matrikelakten und Zeremonialregister auf die Spur eines Eides, der zwar weiterhin gesprochen wurde, dessen Ursprung aber niemand mehr erklären konnte.
Poole folgte der rituellen Formel wie ein Detektiv einer kryptischen Notiz – und stieß schließlich auf die Urszene: den Mordfall von 1242, die königliche Begnadigung von 1264 und die hartnäckige Weigerung der Universität, zu vergeben. In einer Zeit, in der das Archivwesen selbst noch junge Wissenschaft war, leistete Poole Pionierarbeit. Er zeigte, wie langlebig symbolische Praktiken sein können – und wie leicht sie sich der bewussten Reflexion entziehen, wenn sie erst einmal institutionalisiert sind.
Was seine Forschung so bemerkenswert macht, ist weniger die Wiederentdeckung eines Rituals als die Entlarvung seiner Leerstelle: Poole zeigte, dass das vermeintlich traditionsreiche Handeln der Universität auf einem verdrängten Affekt beruhte. Ein Schwur, den niemand mehr verstand, wurde jahrhundertelang gesprochen – nicht wegen, sondern trotz seines Inhalts. Damit formulierte Poole nicht nur eine historische Diagnose, sondern eine erkenntnistheoretische Pointe: Institutionen erinnern nicht nur durch Worte, sondern durch Wiederholung. Und manchmal erinnern sie gerade dann am stärksten, wenn niemand mehr weiß, woran.
Seine Arbeit gilt bis heute als Meilenstein im Verständnis vormoderner akademischer Riten – nicht weil sie das Vergangene glorifiziert, sondern weil sie zeigt, wie nah die Macht der Form am blinden Fleck der Geschichte liegt.
Abschaffung einer überlebten Praxis – das leise Ende eines lauten Symbols
Ironischerweise wurde der Schwur gegen Henry Symeonis nicht in einer dramatischen Geste beendet, sondern in einem Verwaltungsakt – still, unkommentiert, beiläufig. Im Jahr 1827 wurde er offiziell aus den Abschlussritualen der Universität gestrichen. Keine feierliche Erklärung, keine symbolische Entsorgung, keine kritische Aufarbeitung. Der Eid, der über fünf Jahrhunderte die moralische Frontlinie zwischen Universität und Krone markiert hatte, verschwand einfach.
Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Die Universität befand sich inmitten tiefgreifender Umwälzungen. Bürgerliche Bildungsreformen, der Aufstieg eines modernen Wissenschaftsverständnisses und neue Anforderungen an Transparenz und Öffentlichkeit forderten ihren Tribut an althergebrachten Symbolen. Der Schwur passte nicht mehr ins neue Selbstbild – und noch weniger in eine Zeit, die Legitimität nicht mehr aus ritueller Wiederholung, sondern aus argumentativer Nachvollziehbarkeit bezog.
Und doch ist der Umstand, dass dieser Schwur so still verschwand, selbst ein sprechendes Zeichen: Er hatte seine Funktion längst verloren. Was einst als bewusster Akt institutioneller Selbstbehauptung gedacht war, war zu einer formelhaften Restbewegung geworden – unauffällig, leer, folgenlos. Der Tod dieses Rituals war kein Bruch, sondern ein Verblassen.
Gerade dieses leise Ende verrät viel über den Umgang mit symbolischen Altlasten. Rituale, deren Bedeutung längst entkoppelt wurde, lösen sich nicht durch Widerstand auf, sondern durch Desinteresse. Es war nicht die Aufklärung, die dem Eid das Genick brach – sondern das kollektive Achselzucken einer Generation, die sich nicht mehr für ihn interessierte. So endete eine der merkwürdigsten Erinnerungspraktiken der westlichen Bildungsgeschichte – nicht mit einem Donnerschlag, sondern mit einem Aktenvermerk.
Was Rituale über Institutionen verraten – und was sie verdecken
Rituale sind nicht bloß soziale Gewohnheiten; sie funktionieren wie Identitätsanker: Sie halten Institutionen zusammen, wo keine Worte mehr greifen, und sichern Zugehörigkeit durch Wiederholung statt durch Überzeugung.
Doch Rituale tun noch mehr. Sie bewahren nicht nur – sie selektieren. Sie entscheiden darüber, was erinnert wird und was verschwinden darf. In ihnen verdichten sich Machtverhältnisse, werden alte Kränkungen in neue Loyalitäten verwandelt und Grenzen gezogen zwischen „wir“ und „sie“. Der Fall Symeonis macht deutlich: Institutionen verarbeiten Konflikte nicht, indem sie sie lösen, sondern indem sie sie in symbolische Ordnung überführen. Die Feindseligkeit bleibt – nur veredelt durch Form.
Was auf den ersten Blick wie ein harmloser Brauch erscheint, entpuppt sich so als Teil einer tiefer liegenden Strategie kollektiver Selbststabilisierung. Rituale sind keine Nebensache der Institution – sie sind ihr nervöses Zentrum.
Erinnerung ohne Ursprung
Auch in der Gegenwart wirken Rituale fort, deren Herkunft kaum jemand kennt. Man findet sie in Universitäten und Ministerien ebenso wie in Konferenzhotels, Familienfesten oder Aufnahmeriten von Berufsverbänden. Sie strukturieren Zugehörigkeit – und reproduzieren dabei oft unbemerkt Hierarchien, Ausschlüsse oder Mythen, die längst infrage gestellt gehören.
Gerade in einer Zeit, die sich mit historischer Verantwortung schmückt, wird das Weiterleben solcher Praktiken zur Herausforderung: Welche Formen des Erinnerns sind tragfähig – und welche tradieren bloß alten Unfrieden in neuer Verpackung? Welche Rituale dienen der Verständigung, welche verhindern sie?
Der Fall Henry Symeonis zwingt dazu, genauer hinzuschauen. Er lädt ein, die Oberfläche des Feierlichen zu durchbrechen und sich zu fragen: Wo vollziehen wir heute noch Gesten, die wir nicht mehr verstehen – und wem nützen sie? In einer Welt, die Aufarbeitung fordert, bleibt das scheinbar Unscheinbare oft das Wirksamste.
Sozialpsychologische und psychodynamische Perspektiven – Rituale als Affektmanagement
Aus sozialpsychologischer Sicht lassen sich Rituale wie der Schwur gegen Henry Symeonis als Mittel institutioneller Affektregulation verstehen. Sie dienen nicht nur der Integration, sondern erfüllen mehrere gleichzeitige Funktionen: Sie stiften Gruppenkohäsion, schaffen symbolische Stabilität und strukturieren Zugehörigkeit durch Abgrenzung. Indem der Eid über Jahrhunderte hinweg regelmäßig wiederholt wurde, erzeugte er ein kollektives „Wir“, das nicht inhaltlich definiert war, sondern über seinen Gegensatz – das „Nicht-Wir“, verkörpert durch Symeonis – affektiv markiert wurde.
Die ritualisierte Feindseligkeit überdauerte dabei alle politischen, sozialen und ideellen Wandlungsprozesse – gerade, weil sie nicht argumentativ, sondern affektiv vermittelt wurde. Der Schwur funktionierte wie ein sozialer Klebstoff, der nicht über Verständigung, sondern über geteilte Empörung und symbolische Loyalität wirksam blieb.
Psychodynamisch betrachtet, lässt sich das Phänomen als kollektiv organisierte Abwehrleistung deuten. Der Mord, als tiefe narzisstische Kränkung der akademischen Ordnung erlebt, wurde nicht durch Trauer, Versöhnung oder Bewältigung bearbeitet, sondern durch Externalisierung in ein stabiles Feindbild gebannt. Der Täter verschwand – die Symbolfigur blieb. Der Schwur diente fortan dazu, die institutionelle Selbstdefinition gegen innere Ambivalenzen abzudichten: Wer wir sind, ergibt sich daraus, wen wir nicht vergeben dürfen.
Durch die Wiederholung verging das Ereignis nicht, sondern gegenwärtig gehalten – allerdings nicht in seiner historischen Realität, sondern in einer emotional aufgeladenen Projektion. Der Schwur wurde zur Bühne für die Wiederholung eines unbewältigten Konflikts, auf der jede neue Generation von Studierenden mitsprechen musste – ob sie wollte oder nicht. Damit wirkte das Ritual wie ein psychisches Siegel: Es schloss den Schmerz ein und hielt ihn zugleich aufrecht.
Die Funktion des Schwurs lag somit nicht in der Erinnerung an den Mord, sondern in der Stabilisierung eines Selbstbildes, das moralische Überlegenheit und verletzliche Integrität zugleich behauptete. Ein widersprüchliches Narrativ – gehalten durch ein formelhaftes Ritual, das niemand mehr verstand, aber alle mitvollziehen mussten.
Zwischen Kränkung und Kontinuität – Der lange Schatten eines Konflikts
Dass aus einem lokalen Gewaltausbruch ein fünfhundert Jahre überdauernder Eid wurde, zeigt eindrücklich, wie tief Kränkungen in den Strukturen institutioneller Erinnerung verwurzelt sein können. Der Mord an einem Studenten war zweifellos ein Schock – doch er wurde nicht als Einzelfall behandelt, sondern als Angriff auf das akademische Ganze gedeutet. Die symbolische Reaktion fiel entsprechend umfassend aus.
Aus der konkreten Tat entstand ein kollektiver Mythos: Symeonis wurde nicht mehr als Person erinnert, sondern als Chiffre für Verrat, Bedrohung an elitärer Identität und Ausgrenzung von Schuldigen. Der Eid, ursprünglich als moralische Geste gedacht, verwandelte sich über die Jahrhunderte in eine Art Grenzmarkierung – ein performativer Sprechakt, der Loyalität und Zugehörigkeit schuf.
So verschob sich die Funktion des Rituals: Es erinnerte weniger an ein historisches Geschehen, als dass es eine immer neue Linie zwischen dem Eigenen und dem Fremden zog. Zwischen Universität und Stadt, zwischen Ordnung und Bedrohung, zwischen dem „Wir“ der akademischen Welt und dem „die anderen“ der profanen Umgebung. In dieser symbolischen Logik wurde kein Ereignis bewahrt – sondern ein Identitätsgefühl.
Schlussbetrachtung: Institutionen erinnern anders
Die Universität Oxford zählt zu den ältesten Bildungseinrichtungen Europas – und wie jede langlebige Institution trägt sie nicht nur Wissen, sondern auch Widersprüche mit sich. Der Schwur gegen Henry Symeonis zeigt, dass das Gedächtnis von Institutionen nicht durch Fakten strukturiert wird, sondern durch Rituale, Affekte und symbolische Ordnungen.
Die Abschaffung des Eides im Jahr 1827 war mehr als ein bürokratischer Akt – sie markierte einen tiefgreifenden Wandel im Selbstverständnis der Universität. Das, was jahrhundertelang als Identitätsstiftung galt, wurde nun als blinde Gewohnheit erkannt – und entlassen. Doch die eigentliche Lektion liegt nicht im Verschwinden des Rituals, sondern in seiner langen Existenz. Sie erinnert daran, dass Institutionen nicht vergessen, weil sie nicht erinnern – sondern weil sie nicht reflektieren.
Erinnerung, so gesehen, ist kein Archivierungsproblem, sondern eine Frage der Haltung: Welche Geschichten wir weiterschreiben, welche wir loslassen, und welche wir – still oder öffentlich – verabschieden. Jede Institution muss sich früher oder später fragen, ob sie ihre Rituale noch braucht – oder ob sie nur noch dazu dienen, Veränderung abzuwehren.
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Einleitung: Wie aus einem Kriminalfall ein akademischer Mythos wurde
Oxford – dieser Name ruft Bilder hervor: feierliche Hallen, Gelehrte in schwarzen Talaren, Jahrhunderte des Denkens, Forschens und Diskutierens. Wer an diese traditionsreiche Universität denkt, denkt an Exzellenz, nicht an Verbitterung. Und doch verbirgt sich hinter der neogotischen Kulisse ein erstaunliches Kapitel institutionalisierter Rachsucht – eine Geschichte, die mehr mit kollektiver Kränkung als mit akademischer Redlichkeit zu tun hat.
Über fünfhundert Jahre lang mussten angehende Master-Studierende in Oxford einen Eid leisten, in dem sie erklärten, einen bestimmten Mann zu verachten: Henry Symeonis. Kein König, kein Ketzer, kein Feind der Aufklärung – sondern ein städtischer Bürger, der im Jahr 1242 einen Studenten getötet haben soll. Die Umstände des Verbrechens sind ebenso unklar wie seine politische Bedeutung – doch die Reaktion der Universität war eindeutig. Sie verzieh nicht. Nicht nach zehn Jahren, nicht nach hundert. Stattdessen hielt sie an einer symbolischen Sanktion fest, die über Generationen hinweg erneuert wurde.
Warum sollte eine Institution, die sich der Vernunft verschrieben hat, ein halbes Jahrtausend lang an einem Akt kollektiver Abneigung festhalten? Die Antwort liegt nicht allein im historischen Detail, sondern in der Struktur institutionellen Gedächtnisses. Was als individueller Gewaltakt begann, wurde zur Chiffre für den Konflikt zwischen akademischer Autonomie und königlicher Macht. Die Universität widersetzte sich der königlichen Begnadigung des Täters – und verwandelte ihren Groll in ein Ritual. Damit verschob sich die Bedeutung des Eides: Er galt nicht mehr dem Täter, sondern wurde zur Loyalitätsprüfung innerhalb der akademischen Gemeinschaft. Wer den Eid leistete, erklärte sich einverstanden mit der Überzeugung, dass die Universität niemals nachgeben dürfe – nicht einmal im Namen der Gnade.
Diese Geschichte ist mehr als eine Kuriosität. Sie offenbart, wie tief Institutionen Kränkungen einschreiben können – nicht durch Argumente, sondern durch Rituale. Der Schwur gegen Henry Symeonis war nie nur ein Erinnerungsakt; er war eine identitätsstiftende Erzählung, eine performative Wiederholung eines einstigen Unrechts, das nicht losgelassen wurde. Gerade weil niemand mehr wusste, wer Symeonis eigentlich war, konnte er zum perfekten Feindbild werden: ahistorisch, emotionsgeladen, ungefährlich – und dadurch umso wirkungsvoller als Projektionsfläche.
Es ist bemerkenswert, wie lange ein solches Ritual überleben kann, obwohl sein Inhalt längst entleert wurde. Diese Form der symbolischen Selbstvergewisserung ist keine Ausnahme, sondern ein verbreitetes Muster: Wo eine Institution einst verletzt wurde – sei es durch politischen Druck, externe Eingriffe oder innere Konflikte –, bleibt oft eine symbolische Narbe zurück. Die ursprüngliche Kränkung wird dabei nicht gelöscht, sondern verkapselt. Der Schwur gegen Henry Symeonis wurde zu einer Art narzisstischer Narbe: sichtbar gehalten, um nicht zu vergessen – und zugleich so sehr Teil des Systems geworden, dass er nicht mehr hinterfragt wurde.
Und so wurde aus einem historischen Nebenschauplatz ein Lehrstück über die Langzeitwirkungen von Kränkung in Institutionen. Über Rituale, die nicht mehr verstanden, aber weiterhin vollzogen werden. Über die paradoxe Tatsache, dass gerade Orte, die sich der Aufklärung verpflichtet fühlen, besonders anfällig für unbewusste Wiederholungszwänge sein können. Und über die feine Linie zwischen Traditionspflege und Traditionsvergiftung.
Wer war Henry Symeonis? Und warum wurde er zum Symbol?
Henry Symeonis war kein Fürst, kein Gelehrter, kein Ketzer – sondern ein wohlhabender Bürger Oxfords, eingebettet in das städtische Patriziat des 13. Jahrhunderts. 1242 wurde er wegen der Tötung eines Studenten verurteilt – eine Tat, die aus heutiger Sicht wie ein tragisches Einzelereignis erscheinen mag, damals jedoch wie ein Streichholz in ein bereits loderndes Spannungsfeld geworfen wurde. Denn die Fronten zwischen der akademischen Elite und der lokalen Bevölkerung waren zu dieser Zeit längst verhärtet.
Die Universitätsangehörigen, meist Kleriker, unterstanden nicht dem lokalen Recht, sondern dem kirchlichen. Das hieß: Wer einen Bürger beraubte oder beleidigte, musste kaum mit Konsequenzen rechnen – ein Zustand, der in den Gassen Oxfords als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfunden wurde. Es war ein asymmetrisches Machtgefüge: Die Studierenden galten als unantastbar, die Bürger als Störfaktor. In dieser Atmosphäre konnte ein Mord zum Fanal werden. Die Tötung des Studenten – ob vorsätzlich, affektiv oder durch Eskalation – wurde zum kollektiven Trauma. Und Henry Symeonis wurde zur Chiffre: nicht mehr bloß ein Mann, sondern das Gesicht einer kollektiven Kränkung, die mit juristischer Härte beantwortet wurde.
Königliche Begnadigung – und die symbolische Machtdemonstration der Universität
Im Jahr 1264, zwei Jahrzehnte nach dem Mord, tat König Heinrich III., was in seiner Macht stand: Er begnadigte Henry Symeonis. Aus Sicht des Monarchen war der Fall abgeschlossen. Gnade war ein Instrument politischer Befriedung – ein Schlussstrich im Namen der Ordnung. Die Stadt Oxford wurde angewiesen, Symeonis wieder aufzunehmen und den Vorfall hinter sich zu lassen. Doch die Universität widersetzte sich dem königlichen Befehl – nicht laut, aber entschieden. Sie vergab nicht. Und sie vergaß nicht.
Was folgte, war keine juristische Auseinandersetzung, sondern ein Akt ritueller Selbstermächtigung: Die Universität schuf ein symbolisches Gegengewicht zur königlichen Autorität. Sie erklärte, dass sie ihre eigene Erinnerung höher wertet als die Gnade des Herrschers. Diese Erinnerung nahm die Form eines Eides an – eines Schwurs, in dem jeder angehende Master versichern musste, sich niemals mit Henry Symeonis zu versöhnen.
Damit etablierte die Universität mehr als nur ein Ritual. Sie konstruierte ein dauerhaftes Gedächtnis des Unverzeihlichen – und machte es zur Bedingung für akademische Zugehörigkeit. Jahr für Jahr, Zeremonie für Zeremonie, wurde der Schwur erneuert. Er wurde nicht hinterfragt, nicht historisiert, nicht relativiert. Der Eid wirkte wie ein Siegel auf der kollektiven Identität – ein stilles Echo institutioneller Kränkung.
Man könnte sagen: Während der König versuchte, zu befrieden, entschied sich die Universität, zu erinnern. Doch es war keine bloße Erinnerung – es war die rituelle Inszenierung von Unversöhnlichkeit. Ein Akt institutioneller Eigenmacht, der zugleich als Prüfstein diente: Nur wer den Schwur leistete, bewies seine Loyalität zur Ordnung der Universität – nicht zur Ordnung des Reichs.
Der Schwur als Ritual – Loyalität durch Wiederholung
Von da an galt eine eigenwillige Bedingung für alle, die an der Universität Oxford den Mastergrad anstrebten: Sie mussten im Rahmen ihrer Graduierungszeremonie einen Schwur ablegen – und zwar nicht etwa auf Wissen, Wahrheit oder akademische Tugenden, sondern auf Hass. Genauer gesagt: Sie mussten versprechen, sich niemals mit Henry Symeonis zu versöhnen.
Die Eidesformel war in lateinischer Sprache gehalten – wie alle offiziellen Akte der mittelalterlichen Universitätswelt. “Magister, tu jurabis quod nunquam consenties in reconciliationem Henrici Simeonis, nec statum Baccalaurei iterum tibi assumes.” („Magister, du wirst schwören, dass du niemals der Versöhnung mit Henry Symeonis zustimmen, noch erneut den Status eines Bakkalaureus annehmen wirst.“) Der Wortlaut stammt aus den Corpus Statutorum der Universität Oxford und klingt wie eine Zauberformel aus Hogwarts. In gewissem Sinn war er das auch. Die Semantik dieses Satzes verblasste über die Jahrhunderte. Was einst konkret und konfrontativ gemeint war, wurde zu einem formelhaften Akt, ebenso dadaistisch wie „Wingardium leviosa“. Niemand kannte mehr die genauen Umstände. Die Worte wurden gesprochen, ihr Sinn aber nicht mehr verstanden. Und dennoch blieb das Ritual erhalten – über Generationen, über gesellschaftliche Umwälzungen hinweg.
Man könnte meinen, ein solches Ritual sei irgendwann hinterfragt oder abgeschafft worden – doch gerade seine inhaltliche Entleerung machte es unangreifbar. Wie bei vielen überlieferten Gesten blieb der Zweck im Dunkeln, aber die Geste selbst wirkte weiter. Der Eid wurde zu einer Art ritueller Unterschrift unter das kollektive Gedächtnis der Institution. Wer ihn sprach, bekannte sich – bewusst oder unbewusst – zur emotionalen Grammatik der Universität.
Vergleichbar ist dieses Phänomen mit den rituellen Handlungen in Familien, Kirchen oder Armeen: Je leerer die Formel, desto tiefer ihre Bindungskraft. Denn wo der Inhalt vergessen wird, tritt das Tun selbst in den Vordergrund – als Identitätsversicherung gegen das Vergessen, aber auch gegen Veränderung. Der Schwur gegen Henry Symeonis wurde damit zum Paradebeispiel einer kulturellen Wiederholung, die nicht mehr erinnert, sondern nur noch wirkt.
Ein Zeichen akademischer Autonomie – oder: Die Universität gegen den Souverän
Was rückblickend wie ein seltsamer Anachronismus wirkt – ein mittelalterlicher Schwur mit einem längst vergessenen Namen – war im Kontext seiner Entstehung ein bewusster Machtakt. Die Universität Oxford setzte ein Zeichen: Sie entzog sich der Verfügung des Königs und beanspruchte, über ihre eigene Erinnerung selbst zu bestimmen. In einer Zeit, in der akademische Einrichtungen noch keine gesicherten Privilegien besaßen, war dies nichts weniger als ein Akt des institutionellen Widerstands.
Juristisch betrachtet hatte Heinrich III. seine Autorität ausgeübt. Er hatte vergeben – also sollte auch vergeben werden. Doch Oxford weigerte sich. Und in dieser Weigerung lag mehr als nur Trotz: Sie markierte den Beginn eines symbolischen Selbstbehauptungsprogramms. Die Universität erklärte sich zur moralischen Instanz, die der königlichen Vergebung die eigene Wahrheit entgegensetzte – eine Wahrheit, die nicht an Rechtslogik, sondern an Erinnerung, Groll und Identität gebunden war.
So wurde der Schwur zur performativen Grenzziehung zwischen zwei Ordnungen: der politischen Macht des Monarchen und der symbolischen Macht der Institution. Während der König Recht sprach, inszenierte die Universität Dauer. Der Eid war kein Rechtsakt, sondern ein Wiederholungsritual, das die Autonomie der akademischen Sphäre absicherte – durch Wiederholung, nicht durch Argument.
In gewisser Weise stellte Oxford damit früh eine Frage, die bis heute in jeder Universität mitschwingt: Wer hat das letzte Wort über Sinn, über Schuld, über Geschichte? Der Staat, der vergeben kann – oder die Institution, die sich weigert zu vergessen?
Der Eid ohne Erinnerung – wie Rituale das Vergessen konservieren
Über die Jahrhunderte hinweg wurde der Schwur gegen Henry Symeonis weitergereicht wie ein sakrales Relikt – lange nachdem sein Ursprung im Nebel der Geschichte verschwunden war. Für zahllose Generationen von Studierenden war er nichts weiter als eine Pflichtzeile im feierlichen Protokoll der Graduierung. Ein Satz in Latein, gesprochen mit Andacht oder Gleichgültigkeit, aber fast immer ohne Verständnis.
Keiner wusste noch, auf wen sich dieser Eid bezog, geschweige denn, warum er einst eingeführt worden war. Der Mordfall, der ihn ausgelöst hatte, war aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt – doch das Ritual blieb. Und genau darin liegt die paradoxe Kraft solcher symbolischen Handlungen: Sie erinnern nicht, sie wiederholen. Was einst als Ausdruck konkreter Empörung begann, wurde zu einem Akt reiner Form – und gerade dadurch wirksam.
So kehrte sich die ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil: Nicht das Erinnerte strukturierte das Ritual, sondern das Ritual ersetzte das Erinnern. Der Schwur funktionierte wie eine leere Geste mit autoritativem Nachhall – ein Beispiel für das, was Soziologen als „mechanisches Gedächtnis“ bezeichnen. Er war weniger Ausdruck eines bewussten Willens zur Feindseligkeit als vielmehr ein automatisierter Reflex kollektiver Zugehörigkeit.
Man könnte sagen: Die Universität hatte vergessen, warum sie sich nicht versöhnen wollte – aber sie erinnerte sich genau daran, dass sie es nicht durfte. So wurde der Schwur nicht zum Zeichen von Klarheit, sondern zum Siegel eines blinden Beharrens.
Reginald Lane Poole entdeckt die Geschichte neu – und bringt das Vergessene zurück
Es brauchte mehr als ein halbes Jahrtausend und einen scharfsinnigen Historiker, um Licht in die Schatten dieses Rituals zu bringen. Erst im Jahr 1912 stieß Reginald Lane Poole, Professor für Geschichte an der Universität Oxford, bei der Sichtung alter Matrikelakten und Zeremonialregister auf die Spur eines Eides, der zwar weiterhin gesprochen wurde, dessen Ursprung aber niemand mehr erklären konnte.
Poole folgte der rituellen Formel wie ein Detektiv einer kryptischen Notiz – und stieß schließlich auf die Urszene: den Mordfall von 1242, die königliche Begnadigung von 1264 und die hartnäckige Weigerung der Universität, zu vergeben. In einer Zeit, in der das Archivwesen selbst noch junge Wissenschaft war, leistete Poole Pionierarbeit. Er zeigte, wie langlebig symbolische Praktiken sein können – und wie leicht sie sich der bewussten Reflexion entziehen, wenn sie erst einmal institutionalisiert sind.
Was seine Forschung so bemerkenswert macht, ist weniger die Wiederentdeckung eines Rituals als die Entlarvung seiner Leerstelle: Poole zeigte, dass das vermeintlich traditionsreiche Handeln der Universität auf einem verdrängten Affekt beruhte. Ein Schwur, den niemand mehr verstand, wurde jahrhundertelang gesprochen – nicht wegen, sondern trotz seines Inhalts. Damit formulierte Poole nicht nur eine historische Diagnose, sondern eine erkenntnistheoretische Pointe: Institutionen erinnern nicht nur durch Worte, sondern durch Wiederholung. Und manchmal erinnern sie gerade dann am stärksten, wenn niemand mehr weiß, woran.
Seine Arbeit gilt bis heute als Meilenstein im Verständnis vormoderner akademischer Riten – nicht weil sie das Vergangene glorifiziert, sondern weil sie zeigt, wie nah die Macht der Form am blinden Fleck der Geschichte liegt.
Abschaffung einer überlebten Praxis – das leise Ende eines lauten Symbols
Ironischerweise wurde der Schwur gegen Henry Symeonis nicht in einer dramatischen Geste beendet, sondern in einem Verwaltungsakt – still, unkommentiert, beiläufig. Im Jahr 1827 wurde er offiziell aus den Abschlussritualen der Universität gestrichen. Keine feierliche Erklärung, keine symbolische Entsorgung, keine kritische Aufarbeitung. Der Eid, der über fünf Jahrhunderte die moralische Frontlinie zwischen Universität und Krone markiert hatte, verschwand einfach.
Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Die Universität befand sich inmitten tiefgreifender Umwälzungen. Bürgerliche Bildungsreformen, der Aufstieg eines modernen Wissenschaftsverständnisses und neue Anforderungen an Transparenz und Öffentlichkeit forderten ihren Tribut an althergebrachten Symbolen. Der Schwur passte nicht mehr ins neue Selbstbild – und noch weniger in eine Zeit, die Legitimität nicht mehr aus ritueller Wiederholung, sondern aus argumentativer Nachvollziehbarkeit bezog.
Und doch ist der Umstand, dass dieser Schwur so still verschwand, selbst ein sprechendes Zeichen: Er hatte seine Funktion längst verloren. Was einst als bewusster Akt institutioneller Selbstbehauptung gedacht war, war zu einer formelhaften Restbewegung geworden – unauffällig, leer, folgenlos. Der Tod dieses Rituals war kein Bruch, sondern ein Verblassen.
Gerade dieses leise Ende verrät viel über den Umgang mit symbolischen Altlasten. Rituale, deren Bedeutung längst entkoppelt wurde, lösen sich nicht durch Widerstand auf, sondern durch Desinteresse. Es war nicht die Aufklärung, die dem Eid das Genick brach – sondern das kollektive Achselzucken einer Generation, die sich nicht mehr für ihn interessierte. So endete eine der merkwürdigsten Erinnerungspraktiken der westlichen Bildungsgeschichte – nicht mit einem Donnerschlag, sondern mit einem Aktenvermerk.
Was Rituale über Institutionen verraten – und was sie verdecken
Rituale sind nicht bloß soziale Gewohnheiten; sie funktionieren wie Identitätsanker: Sie halten Institutionen zusammen, wo keine Worte mehr greifen, und sichern Zugehörigkeit durch Wiederholung statt durch Überzeugung.
Doch Rituale tun noch mehr. Sie bewahren nicht nur – sie selektieren. Sie entscheiden darüber, was erinnert wird und was verschwinden darf. In ihnen verdichten sich Machtverhältnisse, werden alte Kränkungen in neue Loyalitäten verwandelt und Grenzen gezogen zwischen „wir“ und „sie“. Der Fall Symeonis macht deutlich: Institutionen verarbeiten Konflikte nicht, indem sie sie lösen, sondern indem sie sie in symbolische Ordnung überführen. Die Feindseligkeit bleibt – nur veredelt durch Form.
Was auf den ersten Blick wie ein harmloser Brauch erscheint, entpuppt sich so als Teil einer tiefer liegenden Strategie kollektiver Selbststabilisierung. Rituale sind keine Nebensache der Institution – sie sind ihr nervöses Zentrum.
Erinnerung ohne Ursprung
Auch in der Gegenwart wirken Rituale fort, deren Herkunft kaum jemand kennt. Man findet sie in Universitäten und Ministerien ebenso wie in Konferenzhotels, Familienfesten oder Aufnahmeriten von Berufsverbänden. Sie strukturieren Zugehörigkeit – und reproduzieren dabei oft unbemerkt Hierarchien, Ausschlüsse oder Mythen, die längst infrage gestellt gehören.
Gerade in einer Zeit, die sich mit historischer Verantwortung schmückt, wird das Weiterleben solcher Praktiken zur Herausforderung: Welche Formen des Erinnerns sind tragfähig – und welche tradieren bloß alten Unfrieden in neuer Verpackung? Welche Rituale dienen der Verständigung, welche verhindern sie?
Der Fall Henry Symeonis zwingt dazu, genauer hinzuschauen. Er lädt ein, die Oberfläche des Feierlichen zu durchbrechen und sich zu fragen: Wo vollziehen wir heute noch Gesten, die wir nicht mehr verstehen – und wem nützen sie? In einer Welt, die Aufarbeitung fordert, bleibt das scheinbar Unscheinbare oft das Wirksamste.
Sozialpsychologische und psychodynamische Perspektiven – Rituale als Affektmanagement
Aus sozialpsychologischer Sicht lassen sich Rituale wie der Schwur gegen Henry Symeonis als Mittel institutioneller Affektregulation verstehen. Sie dienen nicht nur der Integration, sondern erfüllen mehrere gleichzeitige Funktionen: Sie stiften Gruppenkohäsion, schaffen symbolische Stabilität und strukturieren Zugehörigkeit durch Abgrenzung. Indem der Eid über Jahrhunderte hinweg regelmäßig wiederholt wurde, erzeugte er ein kollektives „Wir“, das nicht inhaltlich definiert war, sondern über seinen Gegensatz – das „Nicht-Wir“, verkörpert durch Symeonis – affektiv markiert wurde.
Die ritualisierte Feindseligkeit überdauerte dabei alle politischen, sozialen und ideellen Wandlungsprozesse – gerade, weil sie nicht argumentativ, sondern affektiv vermittelt wurde. Der Schwur funktionierte wie ein sozialer Klebstoff, der nicht über Verständigung, sondern über geteilte Empörung und symbolische Loyalität wirksam blieb.
Psychodynamisch betrachtet, lässt sich das Phänomen als kollektiv organisierte Abwehrleistung deuten. Der Mord, als tiefe narzisstische Kränkung der akademischen Ordnung erlebt, wurde nicht durch Trauer, Versöhnung oder Bewältigung bearbeitet, sondern durch Externalisierung in ein stabiles Feindbild gebannt. Der Täter verschwand – die Symbolfigur blieb. Der Schwur diente fortan dazu, die institutionelle Selbstdefinition gegen innere Ambivalenzen abzudichten: Wer wir sind, ergibt sich daraus, wen wir nicht vergeben dürfen.
Durch die Wiederholung verging das Ereignis nicht, sondern gegenwärtig gehalten – allerdings nicht in seiner historischen Realität, sondern in einer emotional aufgeladenen Projektion. Der Schwur wurde zur Bühne für die Wiederholung eines unbewältigten Konflikts, auf der jede neue Generation von Studierenden mitsprechen musste – ob sie wollte oder nicht. Damit wirkte das Ritual wie ein psychisches Siegel: Es schloss den Schmerz ein und hielt ihn zugleich aufrecht.
Die Funktion des Schwurs lag somit nicht in der Erinnerung an den Mord, sondern in der Stabilisierung eines Selbstbildes, das moralische Überlegenheit und verletzliche Integrität zugleich behauptete. Ein widersprüchliches Narrativ – gehalten durch ein formelhaftes Ritual, das niemand mehr verstand, aber alle mitvollziehen mussten.
Zwischen Kränkung und Kontinuität – Der lange Schatten eines Konflikts
Dass aus einem lokalen Gewaltausbruch ein fünfhundert Jahre überdauernder Eid wurde, zeigt eindrücklich, wie tief Kränkungen in den Strukturen institutioneller Erinnerung verwurzelt sein können. Der Mord an einem Studenten war zweifellos ein Schock – doch er wurde nicht als Einzelfall behandelt, sondern als Angriff auf das akademische Ganze gedeutet. Die symbolische Reaktion fiel entsprechend umfassend aus.
Aus der konkreten Tat entstand ein kollektiver Mythos: Symeonis wurde nicht mehr als Person erinnert, sondern als Chiffre für Verrat, Bedrohung an elitärer Identität und Ausgrenzung von Schuldigen. Der Eid, ursprünglich als moralische Geste gedacht, verwandelte sich über die Jahrhunderte in eine Art Grenzmarkierung – ein performativer Sprechakt, der Loyalität und Zugehörigkeit schuf.
So verschob sich die Funktion des Rituals: Es erinnerte weniger an ein historisches Geschehen, als dass es eine immer neue Linie zwischen dem Eigenen und dem Fremden zog. Zwischen Universität und Stadt, zwischen Ordnung und Bedrohung, zwischen dem „Wir“ der akademischen Welt und dem „die anderen“ der profanen Umgebung. In dieser symbolischen Logik wurde kein Ereignis bewahrt – sondern ein Identitätsgefühl.
Schlussbetrachtung: Institutionen erinnern anders
Die Universität Oxford zählt zu den ältesten Bildungseinrichtungen Europas – und wie jede langlebige Institution trägt sie nicht nur Wissen, sondern auch Widersprüche mit sich. Der Schwur gegen Henry Symeonis zeigt, dass das Gedächtnis von Institutionen nicht durch Fakten strukturiert wird, sondern durch Rituale, Affekte und symbolische Ordnungen.
Die Abschaffung des Eides im Jahr 1827 war mehr als ein bürokratischer Akt – sie markierte einen tiefgreifenden Wandel im Selbstverständnis der Universität. Das, was jahrhundertelang als Identitätsstiftung galt, wurde nun als blinde Gewohnheit erkannt – und entlassen. Doch die eigentliche Lektion liegt nicht im Verschwinden des Rituals, sondern in seiner langen Existenz. Sie erinnert daran, dass Institutionen nicht vergessen, weil sie nicht erinnern – sondern weil sie nicht reflektieren.
Erinnerung, so gesehen, ist kein Archivierungsproblem, sondern eine Frage der Haltung: Welche Geschichten wir weiterschreiben, welche wir loslassen, und welche wir – still oder öffentlich – verabschieden. Jede Institution muss sich früher oder später fragen, ob sie ihre Rituale noch braucht – oder ob sie nur noch dazu dienen, Veränderung abzuwehren.
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Über 550 Jahre lang mussten Oxford-Studierende einen Eid gegen einen längst vergessenen Feind leisten: Henry Symeonis. Eine historische Fallstudie über symbolische Ordnung, institutionelle Kränkungen und die stille Macht akademischer Rituale.
Der Oxforder Hassschwur – wenn eine Universität wie die von Oxford in die Nähe von Hogwarts gerät
Einleitung: Wie aus einem Kriminalfall ein akademischer Mythos wurde
Oxford – dieser Name ruft Bilder hervor: feierliche Hallen, Gelehrte in schwarzen Talaren, Jahrhunderte des Denkens, Forschens und Diskutierens. Wer an diese traditionsreiche Universität denkt, denkt an Exzellenz, nicht an Verbitterung. Und doch verbirgt sich hinter der neogotischen Kulisse ein erstaunliches Kapitel institutionalisierter Rachsucht – eine Geschichte, die mehr mit kollektiver Kränkung als mit akademischer Redlichkeit zu tun hat.
Über fünfhundert Jahre lang mussten angehende Master-Studierende in Oxford einen Eid leisten, in dem sie erklärten, einen bestimmten Mann zu verachten: Henry Symeonis. Kein König, kein Ketzer, kein Feind der Aufklärung – sondern ein städtischer Bürger, der im Jahr 1242 einen Studenten getötet haben soll. Die Umstände des Verbrechens sind ebenso unklar wie seine politische Bedeutung – doch die Reaktion der Universität war eindeutig. Sie verzieh nicht. Nicht nach zehn Jahren, nicht nach hundert. Stattdessen hielt sie an einer symbolischen Sanktion fest, die über Generationen hinweg erneuert wurde.
Warum sollte eine Institution, die sich der Vernunft verschrieben hat, ein halbes Jahrtausend lang an einem Akt kollektiver Abneigung festhalten? Die Antwort liegt nicht allein im historischen Detail, sondern in der Struktur institutionellen Gedächtnisses. Was als individueller Gewaltakt begann, wurde zur Chiffre für den Konflikt zwischen akademischer Autonomie und königlicher Macht. Die Universität widersetzte sich der königlichen Begnadigung des Täters – und verwandelte ihren Groll in ein Ritual. Damit verschob sich die Bedeutung des Eides: Er galt nicht mehr dem Täter, sondern wurde zur Loyalitätsprüfung innerhalb der akademischen Gemeinschaft. Wer den Eid leistete, erklärte sich einverstanden mit der Überzeugung, dass die Universität niemals nachgeben dürfe – nicht einmal im Namen der Gnade.
Diese Geschichte ist mehr als eine Kuriosität. Sie offenbart, wie tief Institutionen Kränkungen einschreiben können – nicht durch Argumente, sondern durch Rituale. Der Schwur gegen Henry Symeonis war nie nur ein Erinnerungsakt; er war eine identitätsstiftende Erzählung, eine performative Wiederholung eines einstigen Unrechts, das nicht losgelassen wurde. Gerade weil niemand mehr wusste, wer Symeonis eigentlich war, konnte er zum perfekten Feindbild werden: ahistorisch, emotionsgeladen, ungefährlich – und dadurch umso wirkungsvoller als Projektionsfläche.
Es ist bemerkenswert, wie lange ein solches Ritual überleben kann, obwohl sein Inhalt längst entleert wurde. Diese Form der symbolischen Selbstvergewisserung ist keine Ausnahme, sondern ein verbreitetes Muster: Wo eine Institution einst verletzt wurde – sei es durch politischen Druck, externe Eingriffe oder innere Konflikte –, bleibt oft eine symbolische Narbe zurück. Die ursprüngliche Kränkung wird dabei nicht gelöscht, sondern verkapselt. Der Schwur gegen Henry Symeonis wurde zu einer Art narzisstischer Narbe: sichtbar gehalten, um nicht zu vergessen – und zugleich so sehr Teil des Systems geworden, dass er nicht mehr hinterfragt wurde.
Und so wurde aus einem historischen Nebenschauplatz ein Lehrstück über die Langzeitwirkungen von Kränkung in Institutionen. Über Rituale, die nicht mehr verstanden, aber weiterhin vollzogen werden. Über die paradoxe Tatsache, dass gerade Orte, die sich der Aufklärung verpflichtet fühlen, besonders anfällig für unbewusste Wiederholungszwänge sein können. Und über die feine Linie zwischen Traditionspflege und Traditionsvergiftung.
Wer war Henry Symeonis? Und warum wurde er zum Symbol?
Henry Symeonis war kein Fürst, kein Gelehrter, kein Ketzer – sondern ein wohlhabender Bürger Oxfords, eingebettet in das städtische Patriziat des 13. Jahrhunderts. 1242 wurde er wegen der Tötung eines Studenten verurteilt – eine Tat, die aus heutiger Sicht wie ein tragisches Einzelereignis erscheinen mag, damals jedoch wie ein Streichholz in ein bereits loderndes Spannungsfeld geworfen wurde. Denn die Fronten zwischen der akademischen Elite und der lokalen Bevölkerung waren zu dieser Zeit längst verhärtet.
Die Universitätsangehörigen, meist Kleriker, unterstanden nicht dem lokalen Recht, sondern dem kirchlichen. Das hieß: Wer einen Bürger beraubte oder beleidigte, musste kaum mit Konsequenzen rechnen – ein Zustand, der in den Gassen Oxfords als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfunden wurde. Es war ein asymmetrisches Machtgefüge: Die Studierenden galten als unantastbar, die Bürger als Störfaktor. In dieser Atmosphäre konnte ein Mord zum Fanal werden. Die Tötung des Studenten – ob vorsätzlich, affektiv oder durch Eskalation – wurde zum kollektiven Trauma. Und Henry Symeonis wurde zur Chiffre: nicht mehr bloß ein Mann, sondern das Gesicht einer kollektiven Kränkung, die mit juristischer Härte beantwortet wurde.
Königliche Begnadigung – und die symbolische Machtdemonstration der Universität
Im Jahr 1264, zwei Jahrzehnte nach dem Mord, tat König Heinrich III., was in seiner Macht stand: Er begnadigte Henry Symeonis. Aus Sicht des Monarchen war der Fall abgeschlossen. Gnade war ein Instrument politischer Befriedung – ein Schlussstrich im Namen der Ordnung. Die Stadt Oxford wurde angewiesen, Symeonis wieder aufzunehmen und den Vorfall hinter sich zu lassen. Doch die Universität widersetzte sich dem königlichen Befehl – nicht laut, aber entschieden. Sie vergab nicht. Und sie vergaß nicht.
Was folgte, war keine juristische Auseinandersetzung, sondern ein Akt ritueller Selbstermächtigung: Die Universität schuf ein symbolisches Gegengewicht zur königlichen Autorität. Sie erklärte, dass sie ihre eigene Erinnerung höher wertet als die Gnade des Herrschers. Diese Erinnerung nahm die Form eines Eides an – eines Schwurs, in dem jeder angehende Master versichern musste, sich niemals mit Henry Symeonis zu versöhnen.
Damit etablierte die Universität mehr als nur ein Ritual. Sie konstruierte ein dauerhaftes Gedächtnis des Unverzeihlichen – und machte es zur Bedingung für akademische Zugehörigkeit. Jahr für Jahr, Zeremonie für Zeremonie, wurde der Schwur erneuert. Er wurde nicht hinterfragt, nicht historisiert, nicht relativiert. Der Eid wirkte wie ein Siegel auf der kollektiven Identität – ein stilles Echo institutioneller Kränkung.
Man könnte sagen: Während der König versuchte, zu befrieden, entschied sich die Universität, zu erinnern. Doch es war keine bloße Erinnerung – es war die rituelle Inszenierung von Unversöhnlichkeit. Ein Akt institutioneller Eigenmacht, der zugleich als Prüfstein diente: Nur wer den Schwur leistete, bewies seine Loyalität zur Ordnung der Universität – nicht zur Ordnung des Reichs.
Der Schwur als Ritual – Loyalität durch Wiederholung
Von da an galt eine eigenwillige Bedingung für alle, die an der Universität Oxford den Mastergrad anstrebten: Sie mussten im Rahmen ihrer Graduierungszeremonie einen Schwur ablegen – und zwar nicht etwa auf Wissen, Wahrheit oder akademische Tugenden, sondern auf Hass. Genauer gesagt: Sie mussten versprechen, sich niemals mit Henry Symeonis zu versöhnen.
Die Eidesformel war in lateinischer Sprache gehalten – wie alle offiziellen Akte der mittelalterlichen Universitätswelt. “Magister, tu jurabis quod nunquam consenties in reconciliationem Henrici Simeonis, nec statum Baccalaurei iterum tibi assumes.” („Magister, du wirst schwören, dass du niemals der Versöhnung mit Henry Symeonis zustimmen, noch erneut den Status eines Bakkalaureus annehmen wirst.“) Der Wortlaut stammt aus den Corpus Statutorum der Universität Oxford und klingt wie eine Zauberformel aus Hogwarts. In gewissem Sinn war er das auch. Die Semantik dieses Satzes verblasste über die Jahrhunderte. Was einst konkret und konfrontativ gemeint war, wurde zu einem formelhaften Akt, ebenso dadaistisch wie „Wingardium leviosa“. Niemand kannte mehr die genauen Umstände. Die Worte wurden gesprochen, ihr Sinn aber nicht mehr verstanden. Und dennoch blieb das Ritual erhalten – über Generationen, über gesellschaftliche Umwälzungen hinweg.
Man könnte meinen, ein solches Ritual sei irgendwann hinterfragt oder abgeschafft worden – doch gerade seine inhaltliche Entleerung machte es unangreifbar. Wie bei vielen überlieferten Gesten blieb der Zweck im Dunkeln, aber die Geste selbst wirkte weiter. Der Eid wurde zu einer Art ritueller Unterschrift unter das kollektive Gedächtnis der Institution. Wer ihn sprach, bekannte sich – bewusst oder unbewusst – zur emotionalen Grammatik der Universität.
Vergleichbar ist dieses Phänomen mit den rituellen Handlungen in Familien, Kirchen oder Armeen: Je leerer die Formel, desto tiefer ihre Bindungskraft. Denn wo der Inhalt vergessen wird, tritt das Tun selbst in den Vordergrund – als Identitätsversicherung gegen das Vergessen, aber auch gegen Veränderung. Der Schwur gegen Henry Symeonis wurde damit zum Paradebeispiel einer kulturellen Wiederholung, die nicht mehr erinnert, sondern nur noch wirkt.
Ein Zeichen akademischer Autonomie – oder: Die Universität gegen den Souverän
Was rückblickend wie ein seltsamer Anachronismus wirkt – ein mittelalterlicher Schwur mit einem längst vergessenen Namen – war im Kontext seiner Entstehung ein bewusster Machtakt. Die Universität Oxford setzte ein Zeichen: Sie entzog sich der Verfügung des Königs und beanspruchte, über ihre eigene Erinnerung selbst zu bestimmen. In einer Zeit, in der akademische Einrichtungen noch keine gesicherten Privilegien besaßen, war dies nichts weniger als ein Akt des institutionellen Widerstands.
Juristisch betrachtet hatte Heinrich III. seine Autorität ausgeübt. Er hatte vergeben – also sollte auch vergeben werden. Doch Oxford weigerte sich. Und in dieser Weigerung lag mehr als nur Trotz: Sie markierte den Beginn eines symbolischen Selbstbehauptungsprogramms. Die Universität erklärte sich zur moralischen Instanz, die der königlichen Vergebung die eigene Wahrheit entgegensetzte – eine Wahrheit, die nicht an Rechtslogik, sondern an Erinnerung, Groll und Identität gebunden war.
So wurde der Schwur zur performativen Grenzziehung zwischen zwei Ordnungen: der politischen Macht des Monarchen und der symbolischen Macht der Institution. Während der König Recht sprach, inszenierte die Universität Dauer. Der Eid war kein Rechtsakt, sondern ein Wiederholungsritual, das die Autonomie der akademischen Sphäre absicherte – durch Wiederholung, nicht durch Argument.
In gewisser Weise stellte Oxford damit früh eine Frage, die bis heute in jeder Universität mitschwingt: Wer hat das letzte Wort über Sinn, über Schuld, über Geschichte? Der Staat, der vergeben kann – oder die Institution, die sich weigert zu vergessen?
Der Eid ohne Erinnerung – wie Rituale das Vergessen konservieren
Über die Jahrhunderte hinweg wurde der Schwur gegen Henry Symeonis weitergereicht wie ein sakrales Relikt – lange nachdem sein Ursprung im Nebel der Geschichte verschwunden war. Für zahllose Generationen von Studierenden war er nichts weiter als eine Pflichtzeile im feierlichen Protokoll der Graduierung. Ein Satz in Latein, gesprochen mit Andacht oder Gleichgültigkeit, aber fast immer ohne Verständnis.
Keiner wusste noch, auf wen sich dieser Eid bezog, geschweige denn, warum er einst eingeführt worden war. Der Mordfall, der ihn ausgelöst hatte, war aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt – doch das Ritual blieb. Und genau darin liegt die paradoxe Kraft solcher symbolischen Handlungen: Sie erinnern nicht, sie wiederholen. Was einst als Ausdruck konkreter Empörung begann, wurde zu einem Akt reiner Form – und gerade dadurch wirksam.
So kehrte sich die ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil: Nicht das Erinnerte strukturierte das Ritual, sondern das Ritual ersetzte das Erinnern. Der Schwur funktionierte wie eine leere Geste mit autoritativem Nachhall – ein Beispiel für das, was Soziologen als „mechanisches Gedächtnis“ bezeichnen. Er war weniger Ausdruck eines bewussten Willens zur Feindseligkeit als vielmehr ein automatisierter Reflex kollektiver Zugehörigkeit.
Man könnte sagen: Die Universität hatte vergessen, warum sie sich nicht versöhnen wollte – aber sie erinnerte sich genau daran, dass sie es nicht durfte. So wurde der Schwur nicht zum Zeichen von Klarheit, sondern zum Siegel eines blinden Beharrens.
Reginald Lane Poole entdeckt die Geschichte neu – und bringt das Vergessene zurück
Es brauchte mehr als ein halbes Jahrtausend und einen scharfsinnigen Historiker, um Licht in die Schatten dieses Rituals zu bringen. Erst im Jahr 1912 stieß Reginald Lane Poole, Professor für Geschichte an der Universität Oxford, bei der Sichtung alter Matrikelakten und Zeremonialregister auf die Spur eines Eides, der zwar weiterhin gesprochen wurde, dessen Ursprung aber niemand mehr erklären konnte.
Poole folgte der rituellen Formel wie ein Detektiv einer kryptischen Notiz – und stieß schließlich auf die Urszene: den Mordfall von 1242, die königliche Begnadigung von 1264 und die hartnäckige Weigerung der Universität, zu vergeben. In einer Zeit, in der das Archivwesen selbst noch junge Wissenschaft war, leistete Poole Pionierarbeit. Er zeigte, wie langlebig symbolische Praktiken sein können – und wie leicht sie sich der bewussten Reflexion entziehen, wenn sie erst einmal institutionalisiert sind.
Was seine Forschung so bemerkenswert macht, ist weniger die Wiederentdeckung eines Rituals als die Entlarvung seiner Leerstelle: Poole zeigte, dass das vermeintlich traditionsreiche Handeln der Universität auf einem verdrängten Affekt beruhte. Ein Schwur, den niemand mehr verstand, wurde jahrhundertelang gesprochen – nicht wegen, sondern trotz seines Inhalts. Damit formulierte Poole nicht nur eine historische Diagnose, sondern eine erkenntnistheoretische Pointe: Institutionen erinnern nicht nur durch Worte, sondern durch Wiederholung. Und manchmal erinnern sie gerade dann am stärksten, wenn niemand mehr weiß, woran.
Seine Arbeit gilt bis heute als Meilenstein im Verständnis vormoderner akademischer Riten – nicht weil sie das Vergangene glorifiziert, sondern weil sie zeigt, wie nah die Macht der Form am blinden Fleck der Geschichte liegt.
Abschaffung einer überlebten Praxis – das leise Ende eines lauten Symbols
Ironischerweise wurde der Schwur gegen Henry Symeonis nicht in einer dramatischen Geste beendet, sondern in einem Verwaltungsakt – still, unkommentiert, beiläufig. Im Jahr 1827 wurde er offiziell aus den Abschlussritualen der Universität gestrichen. Keine feierliche Erklärung, keine symbolische Entsorgung, keine kritische Aufarbeitung. Der Eid, der über fünf Jahrhunderte die moralische Frontlinie zwischen Universität und Krone markiert hatte, verschwand einfach.
Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Die Universität befand sich inmitten tiefgreifender Umwälzungen. Bürgerliche Bildungsreformen, der Aufstieg eines modernen Wissenschaftsverständnisses und neue Anforderungen an Transparenz und Öffentlichkeit forderten ihren Tribut an althergebrachten Symbolen. Der Schwur passte nicht mehr ins neue Selbstbild – und noch weniger in eine Zeit, die Legitimität nicht mehr aus ritueller Wiederholung, sondern aus argumentativer Nachvollziehbarkeit bezog.
Und doch ist der Umstand, dass dieser Schwur so still verschwand, selbst ein sprechendes Zeichen: Er hatte seine Funktion längst verloren. Was einst als bewusster Akt institutioneller Selbstbehauptung gedacht war, war zu einer formelhaften Restbewegung geworden – unauffällig, leer, folgenlos. Der Tod dieses Rituals war kein Bruch, sondern ein Verblassen.
Gerade dieses leise Ende verrät viel über den Umgang mit symbolischen Altlasten. Rituale, deren Bedeutung längst entkoppelt wurde, lösen sich nicht durch Widerstand auf, sondern durch Desinteresse. Es war nicht die Aufklärung, die dem Eid das Genick brach – sondern das kollektive Achselzucken einer Generation, die sich nicht mehr für ihn interessierte. So endete eine der merkwürdigsten Erinnerungspraktiken der westlichen Bildungsgeschichte – nicht mit einem Donnerschlag, sondern mit einem Aktenvermerk.
Was Rituale über Institutionen verraten – und was sie verdecken
Rituale sind nicht bloß soziale Gewohnheiten; sie funktionieren wie Identitätsanker: Sie halten Institutionen zusammen, wo keine Worte mehr greifen, und sichern Zugehörigkeit durch Wiederholung statt durch Überzeugung.
Doch Rituale tun noch mehr. Sie bewahren nicht nur – sie selektieren. Sie entscheiden darüber, was erinnert wird und was verschwinden darf. In ihnen verdichten sich Machtverhältnisse, werden alte Kränkungen in neue Loyalitäten verwandelt und Grenzen gezogen zwischen „wir“ und „sie“. Der Fall Symeonis macht deutlich: Institutionen verarbeiten Konflikte nicht, indem sie sie lösen, sondern indem sie sie in symbolische Ordnung überführen. Die Feindseligkeit bleibt – nur veredelt durch Form.
Was auf den ersten Blick wie ein harmloser Brauch erscheint, entpuppt sich so als Teil einer tiefer liegenden Strategie kollektiver Selbststabilisierung. Rituale sind keine Nebensache der Institution – sie sind ihr nervöses Zentrum.
Erinnerung ohne Ursprung
Auch in der Gegenwart wirken Rituale fort, deren Herkunft kaum jemand kennt. Man findet sie in Universitäten und Ministerien ebenso wie in Konferenzhotels, Familienfesten oder Aufnahmeriten von Berufsverbänden. Sie strukturieren Zugehörigkeit – und reproduzieren dabei oft unbemerkt Hierarchien, Ausschlüsse oder Mythen, die längst infrage gestellt gehören.
Gerade in einer Zeit, die sich mit historischer Verantwortung schmückt, wird das Weiterleben solcher Praktiken zur Herausforderung: Welche Formen des Erinnerns sind tragfähig – und welche tradieren bloß alten Unfrieden in neuer Verpackung? Welche Rituale dienen der Verständigung, welche verhindern sie?
Der Fall Henry Symeonis zwingt dazu, genauer hinzuschauen. Er lädt ein, die Oberfläche des Feierlichen zu durchbrechen und sich zu fragen: Wo vollziehen wir heute noch Gesten, die wir nicht mehr verstehen – und wem nützen sie? In einer Welt, die Aufarbeitung fordert, bleibt das scheinbar Unscheinbare oft das Wirksamste.
Sozialpsychologische und psychodynamische Perspektiven – Rituale als Affektmanagement
Aus sozialpsychologischer Sicht lassen sich Rituale wie der Schwur gegen Henry Symeonis als Mittel institutioneller Affektregulation verstehen. Sie dienen nicht nur der Integration, sondern erfüllen mehrere gleichzeitige Funktionen: Sie stiften Gruppenkohäsion, schaffen symbolische Stabilität und strukturieren Zugehörigkeit durch Abgrenzung. Indem der Eid über Jahrhunderte hinweg regelmäßig wiederholt wurde, erzeugte er ein kollektives „Wir“, das nicht inhaltlich definiert war, sondern über seinen Gegensatz – das „Nicht-Wir“, verkörpert durch Symeonis – affektiv markiert wurde.
Die ritualisierte Feindseligkeit überdauerte dabei alle politischen, sozialen und ideellen Wandlungsprozesse – gerade, weil sie nicht argumentativ, sondern affektiv vermittelt wurde. Der Schwur funktionierte wie ein sozialer Klebstoff, der nicht über Verständigung, sondern über geteilte Empörung und symbolische Loyalität wirksam blieb.
Psychodynamisch betrachtet, lässt sich das Phänomen als kollektiv organisierte Abwehrleistung deuten. Der Mord, als tiefe narzisstische Kränkung der akademischen Ordnung erlebt, wurde nicht durch Trauer, Versöhnung oder Bewältigung bearbeitet, sondern durch Externalisierung in ein stabiles Feindbild gebannt. Der Täter verschwand – die Symbolfigur blieb. Der Schwur diente fortan dazu, die institutionelle Selbstdefinition gegen innere Ambivalenzen abzudichten: Wer wir sind, ergibt sich daraus, wen wir nicht vergeben dürfen.
Durch die Wiederholung verging das Ereignis nicht, sondern gegenwärtig gehalten – allerdings nicht in seiner historischen Realität, sondern in einer emotional aufgeladenen Projektion. Der Schwur wurde zur Bühne für die Wiederholung eines unbewältigten Konflikts, auf der jede neue Generation von Studierenden mitsprechen musste – ob sie wollte oder nicht. Damit wirkte das Ritual wie ein psychisches Siegel: Es schloss den Schmerz ein und hielt ihn zugleich aufrecht.
Die Funktion des Schwurs lag somit nicht in der Erinnerung an den Mord, sondern in der Stabilisierung eines Selbstbildes, das moralische Überlegenheit und verletzliche Integrität zugleich behauptete. Ein widersprüchliches Narrativ – gehalten durch ein formelhaftes Ritual, das niemand mehr verstand, aber alle mitvollziehen mussten.
Zwischen Kränkung und Kontinuität – Der lange Schatten eines Konflikts
Dass aus einem lokalen Gewaltausbruch ein fünfhundert Jahre überdauernder Eid wurde, zeigt eindrücklich, wie tief Kränkungen in den Strukturen institutioneller Erinnerung verwurzelt sein können. Der Mord an einem Studenten war zweifellos ein Schock – doch er wurde nicht als Einzelfall behandelt, sondern als Angriff auf das akademische Ganze gedeutet. Die symbolische Reaktion fiel entsprechend umfassend aus.
Aus der konkreten Tat entstand ein kollektiver Mythos: Symeonis wurde nicht mehr als Person erinnert, sondern als Chiffre für Verrat, Bedrohung an elitärer Identität und Ausgrenzung von Schuldigen. Der Eid, ursprünglich als moralische Geste gedacht, verwandelte sich über die Jahrhunderte in eine Art Grenzmarkierung – ein performativer Sprechakt, der Loyalität und Zugehörigkeit schuf.
So verschob sich die Funktion des Rituals: Es erinnerte weniger an ein historisches Geschehen, als dass es eine immer neue Linie zwischen dem Eigenen und dem Fremden zog. Zwischen Universität und Stadt, zwischen Ordnung und Bedrohung, zwischen dem „Wir“ der akademischen Welt und dem „die anderen“ der profanen Umgebung. In dieser symbolischen Logik wurde kein Ereignis bewahrt – sondern ein Identitätsgefühl.
Schlussbetrachtung: Institutionen erinnern anders
Die Universität Oxford zählt zu den ältesten Bildungseinrichtungen Europas – und wie jede langlebige Institution trägt sie nicht nur Wissen, sondern auch Widersprüche mit sich. Der Schwur gegen Henry Symeonis zeigt, dass das Gedächtnis von Institutionen nicht durch Fakten strukturiert wird, sondern durch Rituale, Affekte und symbolische Ordnungen.
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Erinnerung, so gesehen, ist kein Archivierungsproblem, sondern eine Frage der Haltung: Welche Geschichten wir weiterschreiben, welche wir loslassen, und welche wir – still oder öffentlich – verabschieden. Jede Institution muss sich früher oder später fragen, ob sie ihre Rituale noch braucht – oder ob sie nur noch dazu dienen, Veränderung abzuwehren.
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