Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte
Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte
Geschichte und Gefühl
Veröffentlicht am:
15.12.2025


DESCRIPTION:
Geschichte und Gefühl: Emotionen historisch und kulturell – ein Überblick.
Emotionsgeschichte: Warum unsere Gefühle historisch und kulturell anders sind als die unserer Vorfahren
Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, Ihre Emotionen „passen nicht“, wenn Sie sich fragen, warum Emotionsregulation manchmal nicht funktioniert, oder wenn Sie verstehen möchten, warum Selbsthilfeansätze kulturell begrenzt sind, dann liefert die Emotionsgeschichte überraschende Antworten.
Worum es geht:
· dass Emotionen nicht universell und unveränderlich sind, sondern historisch und kulturell geprägt,
· warum das Verständnis der Emotionsgeschichte Ihre eigene Emotionsregulation grundlegend verändert, und,
· warum dieses Thema mehr ist als akademische Theorie.
Jan Plamper, Professor für Geschichte an der Goldsmiths, University of London, hat mit einem viel beachteten Buch: „Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte“ (2015) das boomende Forschungsgebiet der Emotionsgeschichte für Laien systematisiert. Auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat unter der Leitung von Ute Frevert, einer führenden Historikerin auf diesem Gebiet, gezeigt: Emotionen haben Geschichte. Sie sind wandelbar. Und das hat massive Konsequenzen für unser Verständnis von emotionaler Gesundheit, Therapie und Selbstregulation.
Dieser Post verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Anwendungen für Ihre Emotionen im Alltag.
Was ist Emotionsgeschichte?
Emotionsgeschichte untersucht, wie Menschen in verschiedenen Epochen ihre Gefühle erlebten, ausdrückten und regulierten und wie sich das im Laufe der Zeit veränderte.
Was macht diesen Ansatz so revolutionär? Wissenschaftler argumentieren, dass Gefühle nicht einfach biologische Konstanten sind, die über die Jahrhunderte gleichbleiben. Stattdessen sind sie einem zeitlichen Wandel unterworfen. Die Art, wie ein Mensch im Mittelalter Zorn oder Schuld empfinden konnte, unterschied sich fundamental von unseren heutigen Erfahrungen , nicht nur in der Benennung, sondern in der neuronalen Verarbeitung selbst.
Wie Wissenschaftler die Grundlagen der Emotionsgeschichte definiert
„Grundlagen der Emotionsgeschichte“ legt dar, wie sich dieses Forschungsgebiet entwickelt hat. Von den frühen Arbeiten des französischen Historikers Lucien Febvre, der bereits 1941 in den „Annales d'Histoire Sociale“ die Frage stellte, ob man eine „Geschichte des Hasses“ schreiben könne, bis zu zeitgenössischen Ansätzen.
Historiker der Gefühle verfolgen verschiedene theoretische Ansätze: Die konstruktivistische Position (vertreten durch William Reddy und seine Theorie der „emotives“) besagt, dass Emotionen eigentlich Sprachhandlungen (performative Sprechakte) sind: Sie werden durch ihre sprachliche Formulierung regelrecht hergestellt. Die praxeologische Schule (Monique Scheer) sieht Emotionen als erlernte Praktiken. Und neurowissenschaftliche Ansätze ziehen Hirnprozesse zur Erklärung von Emotionen heran, ohne in biologischen Determinismus zu verfallen.
Der gemeinsame Nenner aller dieser Richtungen ist: Emotionen sind weder rein biologisch noch rein kulturell, sondern entstehen in der Wechselwirkung beider Sphären. Darum haben Gefühle körperliche Realität und unterliegen gleichzeitig historischer Veränderung .
Fühlten unsere Vorfahren wirklich anders? Geschichte und Gefühl im Wandel
Hier wird es konkret. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Jahr 1750 in einem Salon und erzählen den Anwesenden, dass Sie sich „gestresst“ fühlen. Die Reaktion? Blankes Unverständnis. Das Wort existierte in diesem Sinne noch nicht. Nicht, weil die Menschen damals nicht unter Druck standen , sondern weil sie ihre inneren Zustände anders kategorisierten, anders fühlten, anders ausdrückten.
Die Geschichte der Emotionen zeigt: Was wir heute als „Depression“ diagnostizieren würden, galt im 18. Jahrhundert als „Melancholie“ , ein Zustand, der sogar als Zeichen von Tiefe und Intellektualität gewertet wurde. Im sogenannten therapeutischen Zeitalter des 20. Jahrhunderts wurde dieselbe Erfahrung pathologisiert und behandlungsbedürftig.
Barbara Rosenwein, eine weitere Pionierin der Emotionsforschung, prägte den Begriff der „emotionalen Gemeinschaften“ , Gruppen, die festlegen, welche Gefühle wie ausgedrückt werden dürfen. Im Mittelalter war öffentliches Weinen bei Männern ein Zeichen von Stärke und Leidenschaft. Heute gilt es als Schwäche. Hat sich die Biologie geändert? Nein. Aber die kulturellen Gefühlsnormen und damit die neuronale Verarbeitung schon.
Warum Emotionshistoriker das ändern, was wir über Gefühle denken
Die Emotionsgeschichte hat viele aktuelle Debatten beeinflusst , von Diskussionen über „German Angst“ bis zur Frage nach der Willensfreiheit. Wissenschaftler wie Benno Gammerl, Margrit Pernau und Bettina Hitzer haben gezeigt: Wenn Emotionen kulturell geprägt sind, dann können wir sie auch aktiv gestalten.
Das hat praktische Konsequenzen. Die Ratgeberliteratur geht meist davon aus, dass es „richtige“ und „falsche“ Emotionen gibt , universell gültige Standards emotionaler Gesundheit. Aber diese Standards sind selbst historische Produkte. Was heute als „emotional intelligent“ gilt, wäre in anderen Epochen als Schwäche oder gar Unaufrichtigkeit bewertet worden.
Peter Stearns prägte den Begriff „Emotionology“ , die Untersuchung gesellschaftlicher Standards für emotionalen Ausdruck. Seine Forschung zeigt: Verändern sich Moral und Ehre im Laufe der Zeit, verändert sich auch, wie Menschen rachsüchtig oder stolz reagieren. Moral und Ehre im Laufe der Geschichte sind keine Konstanten, sondern Verhandlungsprozesse.
Was hat Stalin mit unseren Emotionen zu tun? Wissenschaftlers Forschung
Bevor Plamper „Geschichte und Gefühl“ schrieb, verfasste er „The Stalin Cult: A Study in the Alchemy of Power“ (2012) , eine Untersuchung darüber, wie emotionale Bindung an einen Diktator erzeugt wird. Diese Forschung zum Stalinismus zeigt: Gefühle sind nicht nur privat, sie haben massiven politischen Einfluss auf ihr Handeln.
Der Stalin-Kult funktionierte, weil er spezifische Affekte erzeugte , eine Mischung aus Angst, Verehrung, und dem, was man „affective loyalty“ nennen könnte. Diese Emotionen wurden systematisch kultiviert durch Rituale, Sprache visuelle Propaganda. Sie waren nicht „natürlich“ oder „spontan“, sondern das Ergebnis emotionaler Erziehung.
Was bedeutet das für uns heute? Dass Gefühle niemals „nur persönlich“ sind. Sie werden geformt durch Macht, Politik, Medien. Die Macht der Gefühle liegt darin, dass sie als „authentisch“ und „ungefiltert“ erscheinen , während sie tatsächlich hochgradig sozial konstruiert sind. Das zu verstehen, ist der erste Schritt zur emotionalen Autonomie.
Sind Emotionen universell oder kulturell? Die zentrale Debatte
Dies ist die Kernfrage der Emotionsgeschichte: Gibt es universelle Basisemotionen (wie Paul Ekman behauptet), oder sind alle Gefühle kulturelle Konstrukte? Wissenschaftler navigiert geschickt zwischen diesen Polen.
Die Position, dass Gefühle universell und biologisch determiniert sind, hat ihren Reiz , sie ist einfach, messbar, scheinbar objektiv. Aber die Geschichtswissenschaft zeigt: Selbst, wenn es biologische Grundlagen gibt (und die gibt es), wird ihre Erfahrung, ihr Ausdruck und ihre Bedeutung kulturell geformt.
Ein Beispiel: Der Affekt „Ärger“ mag neurobiologisch ähnlich sein bei einem mittelalterlichen Ritter und einem modernen Manager. Aber wie dieser Ärger interpretiert wird (als rechtmäßige Verteidigung der Ehre vs. als Kontrollverlust), wie er ausgedrückt wird (Duell vs. passive Aggression) und welche Konsequenzen er hat (Statusgewinn vs. Therapiebedürftigkeit) , das ist historisch und kulturell gebunden.
Die Begriffsgeschichte des Wortes „Gefühl“ selbst ist aufschlussreich. Wilhelm Dilthey unterschied im 19. Jahrhundert zwischen „Gefühl“ (dem subjektiven Erleben) und „Stimmung“ (dem anhaltenden Grundton). Diese Differenzierung existierte in früheren Epochen nicht und fehlt in vielen anderen Sprachen.
Wie die Geschichte der Gefühle unser Verständnis von Emotionsregulation verändert
Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, Ihre Emotionen „passen nicht“ , dann spüren Sie die Spannung zwischen Ihrer inneren Erfahrung und den verfügbaren kulturellen Kategorien. Sie haben möglicherweise ein Gefühl, für das es in Ihrer emotionalen Gemeinschaft keine Sprache gibt. Oder schlimmer: ein Gefühl, das als „illegitim“ gilt.
Neurobiologisch gesehen: Das limbische System generiert Affekte. Aber erst die Hirnrinde, beeinflusst durch Sprache, Kultur undErziehung, macht daraus benannte Emotionen. Dieser Prozess ist nicht neutral. Er wird geformt durch die ungeschriebenen Regeln seiner Zeit. Die Neurowissenschaft bestätigt, was die Emotionshistoriker argumentieren: Kategorisierung verändert Erfahrung.
Wenn Sie also lernen, „Ihre Emotionen besser zu regulieren“, lernen Sie oft: „Fühle so, wie es in deiner Gemeinschaft akzeptabel ist.“ Das ist hilfreich. Es ist aber auch eine unterschwellige Form der Selbstverleugnung. Die Emotionsgeschichte zeigt: Jede Epoche hatte andere Vorstellungen davon, welche Gefühle „gut“ oder „schlecht“ sind.
Was lernen wir von der Emotionsgeschichte für unseren Alltag?
Die Theoriebildung der Emotionsgeschichte mag akademisch klingen, aber sie hat praktische Konsequenzen. Drei zentrale Erkenntnisse:
Erstens: Emotionen sind flexibler, als wir denken. Wenn Menschen im 18. Jahrhundert „Melancholie“ als produktiven, fast erstrebenswerten Zustand erlebten, zeigt das: Unsere Bewertungen sind kulturell geprägt, nicht absolut. Das heißt: Sie können Ihre Beziehung zu Ihren Gefühlen aktiv gestalten.
Zweitens: Sprache ist Macht. Je präziser Sie Ihre inneren Zustände benennen, umso besser gelingt es, sie zu regulieren. Aber Vorsicht , die vorgegebenen Kategorien engen die Benennung auch ein. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben gezeigt, dass emotionale Granularität (die Fähigkeit, Gefühle differenziert zu benennen) direkt mit psychischer Gesundheit korreliert.
Drittens: Ihre Gefühle sind nicht „falsch“, nur weil sie nicht in gängige Kategorien passen. Vielleicht fehlt nur das Vokabular. Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, betont: „Gefühle schreiben Geschichte“ , aber Geschichte schreibt auch unsere Gefühle.
Welche praktischen Methoden folgen aus Wissenschaftlers Erkenntnissen?
Anstatt beim nächsten starken Gefühl reflexartig nach den Standardkategorien zu greifen („Bin ich jetzt wütend oder traurig?“), versuchen Sie dies:
1. Beschreiben Sie die körperliche Empfindung: Wo im Körper? Welche Qualität? (Eng, weit, pulsierend, stechend?) Diese Praxis des Embodiments erkennt an, dass Gefühle immer auch körperliche Erfahrungen sind , aber ihre Interpretation variiert.
2. Finden Sie einen Vergleich: Wenn dieses Gefühl eine Landschaft wäre , wie sähe sie aus? Diese metaphorische Annäherung umgeht die Einschränkungen vorgegebener Emotionskategorien.
3. Erfinden Sie notfalls ein Wort: „Glasscherbenherz“, „Nebelwut“, „Stahlsehnsucht“ – was auch immer passt. Diese Praxis mag unkonventionell erscheinen, ist aber historisch fundiert. Jede Epoche hat neue emotionale Begriffe geprägt, wenn die alten nicht mehr ausreichten.
4. Notieren Sie es. Bauen Sie Ihr eigenes emotionales Lexikon auf. Diese Praxis ist nicht esoterisch , sie ist neurobiologisch begründet. Durch genaue Bezeichnungen schaffen Sie differenziertere neuronale Verknüpfungen. Das nennt man emotionale Granularität, und sie korreliert direkt mit besserer Emotionsregulation.
Diese Übungen basieren auf der Erkenntnis der Emotionsgeschichte, dass emotionale Kategorien nicht gegeben, sondern gemacht sind. Wenn frühere Generationen ihre eigenen Begriffe schufen (denken Sie an „Weltschmerz“, ein spezifisch deutsches Konzept des 19. Jahrhunderts), schufen Sie das auch.
Warum die Emotionsgeschichte gerade jetzt so bedeutsam ist
Wir leben in einer Zeit zunehmender emotionaler Standardisierung. Die Konjunktur der Emotionsforschung in den vergangenen zwanzig Jahren ist kein Zufall , sie spiegelt ein wachsendes Unbehagen mit reduktionistischen Modellen von Gefühlen wider.
Die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Emotionen sind nicht nur privat, sie strukturieren Märkte. Die „German Angst“ ist nicht nur ein Stereotyp, sondern hat reale ökonomische Konsequenzen , von Sparverhalten bis Risikovermeidung. Dass Gefühle ökonomisch relevant sind, wusste schon Adam Smith. Aber erst die moderne Emotionsgeschichte zeigt systematisch, wie sich diese Zusammenhänge über die Zeit verändern.
Die Psychohistorie, ein Vorläufer der Emotionsgeschichte, versuchte bereits in den 1970ern, psychoanalytische Konzepte auf historische Akteure anzuwenden , scheiterte aber oft daran, kulturelle Differenzen zu ignorieren. Die moderne Emotionsgeschichte, wie sie Wissenschaftler vertreten, macht es besser: Sie erkennt an, dass sowohl biologische als auch kulturelle Faktoren wirken, aber ihre Interaktion ist das Entscheidende.
Im Forschungsbereich der Emotionsgeschichte arbeiten mittlerweile Historiker, Neurowissenschaftler, Anthropologen und Therapeuten zusammen. Diese Interdisziplinarität ermöglicht neue Einsichten , aber auch neue Fragen. Eine zentrale Frage: Wenn Emotionen historisch wandelbar sind, wie „authentisch“ sind dann unsere heutigen Gefühle? Und wessen Interessen dienen sie?
Die sprachliche Integrationslücke: Wenn Gefühle sprachlos machen
Hier liegt eine der größten Fallen moderner Emotionsarbeit: Wir versuchen, unsere Gefühle in vorgefertigte Kategorien zu pressen: „Ist das jetzt Traurigkeit oder Angst?“ , obwohl die innere Erfahrung möglicherweise komplexer ist als die verfügbaren Worte.
Das führt zu dem, was ich die sprachliche Integrationslücke nenne: Sie fühlen etwas, können es aber nicht benennen. Und was nicht benannt werden kann, kann auch nicht vollständig verarbeitet werden.
Ein konkretes Beispiel aus der Praxis: Eine Patientin beschrieb ein Gefühl als „schweres Summen im Brustkorb, das mich lähmt, aber gleichzeitig nach außen will“. Weder Angst noch Wut noch Trauer trafen das genau. Erst als wir eine eigene Bezeichnung erarbeitet hatten, „eingefrorene Dringlichkeit“ , konnte sie damit arbeiten.
Die Emotionsgeschichte lehrt uns: Neue historische Situationen erfordern neue emotionale Konzepte. Die Pandemie hat Gefühlslagen erzeugt, für die es zunächst keine Namen gab , bis altertümliche Begriffe wie „languishing“ (ein Wort für Corona-Blues, ein diffuses Gefühl von Stagnation und Leere) populär wurden. Diese Benennung war nicht nur deskriptiv, sondern therapeutisch: Sie ermöglichte Menschen, ihre Erfahrung zu bestätigen und zu teilen.
Kritische Reflexion: Die Grenzen der Emotionsgeschichte
Es wäre unehrlich, die Kritik an diesem Forschungsgebiet zu verschweigen. Einige Neurowissenschaftler argumentieren, dass die Betonung kultureller Variabilität die biologischen Gemeinsamkeiten unterschätzt. Andere kritisieren, dass die Emotionsgeschichte manchmal zu konstruktivistisch wird , als ob es keine körperliche Realität von Schmerz oder Angst gäbe, unabhängig von ihrer kulturellen Interpretation.
Diese Einwände sind ernst zu nehmen. Die stärksten Arbeiten in der Emotionsgeschichte (wie die von Plamper, Frevert oder Reddy) navigieren zwischen beiden Polen: Sie erkennen biologische Grundlagen an, zeigen aber, wie deren Erfahrung, Ausdruck und Bedeutung kulturell moduliert werden.
Eine weitere Kritik: Die Emotionsgeschichte kann auch elitär werden. Viele Studien konzentrieren sich auf schriftliche Quellen , Briefe, Tagebücher, literarische Texte. Diese Quellen stammen überproportional von gebildeten, privilegierten Menschen. Wie fühlten die Analphabeten? Die Versklavten? Die Ausgeschlossenen? Hier hat die Emotionsgeschichte noch Arbeit vor sich.
Die wichtigsten Erkenntnisse, was Sie mitnehmen sollten:
• Emotionen haben Geschichte: Gefühle sind nicht universelle Konstanten, sondern unterliegen zeitlichem Wandel und kultureller Prägung
• Wissenschaftliche Grundlagen: Die Emotionsgeschichte zeigt methodisch, wie Gefühle zwischen biologischer Realität und kultureller Konstruktion entstehen..
• Sprache formt Erfahrung: Je präziser Ihr emotionales Vokabular, desto differenzierter Ihre neuronale Verarbeitung und Regulationsfähigkeit.
• Emotionale Gemeinschaften: Jede Epoche und Kultur definiert, welche Gefühle legitim sind. Diese Normen sind verhandelbar, nicht absolut.
• Praktische Anwendung: Wenn gängige Emotionskategorien nicht passen, erfinden Sie eigene Begriffe , das ist historisch fundiert und therapeutisch wirksam.
• Politische Dimension: Gefühle sind nie nur privat , sie strukturieren Macht, Politik und Wirtschaft.
• Biologisch UND kulturell: Emotionen haben körperliche Grundlagen, aber ihre Erfahrung wird durch Kultur, Sprache und Geschichte geformt
• Aktuelle Relevanz: In Zeiten emotionaler Standardisierung (durch Diagnostik, Apps, Ratgeberliteratur) erinnert die Emotionsgeschichte daran, dass emotionale Vielfalt normal und wertvoll ist
• Therapeutische Implikation: Was heute als „emotionale Störung“ gilt, könnte in anderen Kontexten als normale Variation oder sogar Stärke gelten
• Ihre emotionale Autonomie: Das Wissen, dass emotionale Normen historisch wandelbar sind, gibt Ihnen Freiheit, Ihre eigene Beziehung zu Gefühlen zu gestalten
Reflexionsfrage: Gibt es ein Gefühl in Ihrem Leben, das Sie immer wieder erleben, für das Sie aber keine passende Bezeichnung haben? Wie würden Sie es benennen, wenn Sie völlig frei wären , ohne Rücksicht auf therapeutische Kategorien oder kulturelle Erwartungen?
Diese Gedanken sind Teil der Vorbereitung zum Workshop „Emotionsregulation jenseits der Kategorien“ im Gutshaus Ludorf, 16.–18. Januar 2026.
🗓️ Einladung zum Workshop-Wochenende in Ludorf
Möchten Sie lernen, wie Sie die „Integrationslücke“ schließen und Ihr emotionales Wissen in verlässliche innere Stabilität verwandeln?
Am Wochenende vom 16. bis 18. Januar 2026 lädt Dr. med. Dirk Stemper zum Workshop-Retreat in das historische Gutshaus Ludorf (ca. 140 km von Berlin) ein. Das Seminar trägt den Titel:
„Wie regulieren wir unsere Emotionen – ohne uns selbst zu verlieren?“
Freitag, 16. Januar (Abend): Kostenlose Buchvorstellung mit einem kostenlosen Exemplar für jeden Teilnehmer.
Samstag und Sonntag (Workshop): Intensiv-Seminar (max. 12 Teilnehmer) zur Vertiefung des SYSTEM-Frameworks und der Arbeit mit Bindungsmustern und Co-Regulation.
Preis Workshop: 250 € zzgl. Unterkunft und Verpflegung.
👉 Anmeldung und Information: https://tidycal.com/m55y88m/wochenendseminar-emotionsregulation
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Geschichte und Gefühl: Emotionen historisch und kulturell – ein Überblick.
Emotionsgeschichte: Warum unsere Gefühle historisch und kulturell anders sind als die unserer Vorfahren
Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, Ihre Emotionen „passen nicht“, wenn Sie sich fragen, warum Emotionsregulation manchmal nicht funktioniert, oder wenn Sie verstehen möchten, warum Selbsthilfeansätze kulturell begrenzt sind, dann liefert die Emotionsgeschichte überraschende Antworten.
Worum es geht:
· dass Emotionen nicht universell und unveränderlich sind, sondern historisch und kulturell geprägt,
· warum das Verständnis der Emotionsgeschichte Ihre eigene Emotionsregulation grundlegend verändert, und,
· warum dieses Thema mehr ist als akademische Theorie.
Jan Plamper, Professor für Geschichte an der Goldsmiths, University of London, hat mit einem viel beachteten Buch: „Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte“ (2015) das boomende Forschungsgebiet der Emotionsgeschichte für Laien systematisiert. Auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat unter der Leitung von Ute Frevert, einer führenden Historikerin auf diesem Gebiet, gezeigt: Emotionen haben Geschichte. Sie sind wandelbar. Und das hat massive Konsequenzen für unser Verständnis von emotionaler Gesundheit, Therapie und Selbstregulation.
Dieser Post verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Anwendungen für Ihre Emotionen im Alltag.
Was ist Emotionsgeschichte?
Emotionsgeschichte untersucht, wie Menschen in verschiedenen Epochen ihre Gefühle erlebten, ausdrückten und regulierten und wie sich das im Laufe der Zeit veränderte.
Was macht diesen Ansatz so revolutionär? Wissenschaftler argumentieren, dass Gefühle nicht einfach biologische Konstanten sind, die über die Jahrhunderte gleichbleiben. Stattdessen sind sie einem zeitlichen Wandel unterworfen. Die Art, wie ein Mensch im Mittelalter Zorn oder Schuld empfinden konnte, unterschied sich fundamental von unseren heutigen Erfahrungen , nicht nur in der Benennung, sondern in der neuronalen Verarbeitung selbst.
Wie Wissenschaftler die Grundlagen der Emotionsgeschichte definiert
„Grundlagen der Emotionsgeschichte“ legt dar, wie sich dieses Forschungsgebiet entwickelt hat. Von den frühen Arbeiten des französischen Historikers Lucien Febvre, der bereits 1941 in den „Annales d'Histoire Sociale“ die Frage stellte, ob man eine „Geschichte des Hasses“ schreiben könne, bis zu zeitgenössischen Ansätzen.
Historiker der Gefühle verfolgen verschiedene theoretische Ansätze: Die konstruktivistische Position (vertreten durch William Reddy und seine Theorie der „emotives“) besagt, dass Emotionen eigentlich Sprachhandlungen (performative Sprechakte) sind: Sie werden durch ihre sprachliche Formulierung regelrecht hergestellt. Die praxeologische Schule (Monique Scheer) sieht Emotionen als erlernte Praktiken. Und neurowissenschaftliche Ansätze ziehen Hirnprozesse zur Erklärung von Emotionen heran, ohne in biologischen Determinismus zu verfallen.
Der gemeinsame Nenner aller dieser Richtungen ist: Emotionen sind weder rein biologisch noch rein kulturell, sondern entstehen in der Wechselwirkung beider Sphären. Darum haben Gefühle körperliche Realität und unterliegen gleichzeitig historischer Veränderung .
Fühlten unsere Vorfahren wirklich anders? Geschichte und Gefühl im Wandel
Hier wird es konkret. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Jahr 1750 in einem Salon und erzählen den Anwesenden, dass Sie sich „gestresst“ fühlen. Die Reaktion? Blankes Unverständnis. Das Wort existierte in diesem Sinne noch nicht. Nicht, weil die Menschen damals nicht unter Druck standen , sondern weil sie ihre inneren Zustände anders kategorisierten, anders fühlten, anders ausdrückten.
Die Geschichte der Emotionen zeigt: Was wir heute als „Depression“ diagnostizieren würden, galt im 18. Jahrhundert als „Melancholie“ , ein Zustand, der sogar als Zeichen von Tiefe und Intellektualität gewertet wurde. Im sogenannten therapeutischen Zeitalter des 20. Jahrhunderts wurde dieselbe Erfahrung pathologisiert und behandlungsbedürftig.
Barbara Rosenwein, eine weitere Pionierin der Emotionsforschung, prägte den Begriff der „emotionalen Gemeinschaften“ , Gruppen, die festlegen, welche Gefühle wie ausgedrückt werden dürfen. Im Mittelalter war öffentliches Weinen bei Männern ein Zeichen von Stärke und Leidenschaft. Heute gilt es als Schwäche. Hat sich die Biologie geändert? Nein. Aber die kulturellen Gefühlsnormen und damit die neuronale Verarbeitung schon.
Warum Emotionshistoriker das ändern, was wir über Gefühle denken
Die Emotionsgeschichte hat viele aktuelle Debatten beeinflusst , von Diskussionen über „German Angst“ bis zur Frage nach der Willensfreiheit. Wissenschaftler wie Benno Gammerl, Margrit Pernau und Bettina Hitzer haben gezeigt: Wenn Emotionen kulturell geprägt sind, dann können wir sie auch aktiv gestalten.
Das hat praktische Konsequenzen. Die Ratgeberliteratur geht meist davon aus, dass es „richtige“ und „falsche“ Emotionen gibt , universell gültige Standards emotionaler Gesundheit. Aber diese Standards sind selbst historische Produkte. Was heute als „emotional intelligent“ gilt, wäre in anderen Epochen als Schwäche oder gar Unaufrichtigkeit bewertet worden.
Peter Stearns prägte den Begriff „Emotionology“ , die Untersuchung gesellschaftlicher Standards für emotionalen Ausdruck. Seine Forschung zeigt: Verändern sich Moral und Ehre im Laufe der Zeit, verändert sich auch, wie Menschen rachsüchtig oder stolz reagieren. Moral und Ehre im Laufe der Geschichte sind keine Konstanten, sondern Verhandlungsprozesse.
Was hat Stalin mit unseren Emotionen zu tun? Wissenschaftlers Forschung
Bevor Plamper „Geschichte und Gefühl“ schrieb, verfasste er „The Stalin Cult: A Study in the Alchemy of Power“ (2012) , eine Untersuchung darüber, wie emotionale Bindung an einen Diktator erzeugt wird. Diese Forschung zum Stalinismus zeigt: Gefühle sind nicht nur privat, sie haben massiven politischen Einfluss auf ihr Handeln.
Der Stalin-Kult funktionierte, weil er spezifische Affekte erzeugte , eine Mischung aus Angst, Verehrung, und dem, was man „affective loyalty“ nennen könnte. Diese Emotionen wurden systematisch kultiviert durch Rituale, Sprache visuelle Propaganda. Sie waren nicht „natürlich“ oder „spontan“, sondern das Ergebnis emotionaler Erziehung.
Was bedeutet das für uns heute? Dass Gefühle niemals „nur persönlich“ sind. Sie werden geformt durch Macht, Politik, Medien. Die Macht der Gefühle liegt darin, dass sie als „authentisch“ und „ungefiltert“ erscheinen , während sie tatsächlich hochgradig sozial konstruiert sind. Das zu verstehen, ist der erste Schritt zur emotionalen Autonomie.
Sind Emotionen universell oder kulturell? Die zentrale Debatte
Dies ist die Kernfrage der Emotionsgeschichte: Gibt es universelle Basisemotionen (wie Paul Ekman behauptet), oder sind alle Gefühle kulturelle Konstrukte? Wissenschaftler navigiert geschickt zwischen diesen Polen.
Die Position, dass Gefühle universell und biologisch determiniert sind, hat ihren Reiz , sie ist einfach, messbar, scheinbar objektiv. Aber die Geschichtswissenschaft zeigt: Selbst, wenn es biologische Grundlagen gibt (und die gibt es), wird ihre Erfahrung, ihr Ausdruck und ihre Bedeutung kulturell geformt.
Ein Beispiel: Der Affekt „Ärger“ mag neurobiologisch ähnlich sein bei einem mittelalterlichen Ritter und einem modernen Manager. Aber wie dieser Ärger interpretiert wird (als rechtmäßige Verteidigung der Ehre vs. als Kontrollverlust), wie er ausgedrückt wird (Duell vs. passive Aggression) und welche Konsequenzen er hat (Statusgewinn vs. Therapiebedürftigkeit) , das ist historisch und kulturell gebunden.
Die Begriffsgeschichte des Wortes „Gefühl“ selbst ist aufschlussreich. Wilhelm Dilthey unterschied im 19. Jahrhundert zwischen „Gefühl“ (dem subjektiven Erleben) und „Stimmung“ (dem anhaltenden Grundton). Diese Differenzierung existierte in früheren Epochen nicht und fehlt in vielen anderen Sprachen.
Wie die Geschichte der Gefühle unser Verständnis von Emotionsregulation verändert
Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, Ihre Emotionen „passen nicht“ , dann spüren Sie die Spannung zwischen Ihrer inneren Erfahrung und den verfügbaren kulturellen Kategorien. Sie haben möglicherweise ein Gefühl, für das es in Ihrer emotionalen Gemeinschaft keine Sprache gibt. Oder schlimmer: ein Gefühl, das als „illegitim“ gilt.
Neurobiologisch gesehen: Das limbische System generiert Affekte. Aber erst die Hirnrinde, beeinflusst durch Sprache, Kultur undErziehung, macht daraus benannte Emotionen. Dieser Prozess ist nicht neutral. Er wird geformt durch die ungeschriebenen Regeln seiner Zeit. Die Neurowissenschaft bestätigt, was die Emotionshistoriker argumentieren: Kategorisierung verändert Erfahrung.
Wenn Sie also lernen, „Ihre Emotionen besser zu regulieren“, lernen Sie oft: „Fühle so, wie es in deiner Gemeinschaft akzeptabel ist.“ Das ist hilfreich. Es ist aber auch eine unterschwellige Form der Selbstverleugnung. Die Emotionsgeschichte zeigt: Jede Epoche hatte andere Vorstellungen davon, welche Gefühle „gut“ oder „schlecht“ sind.
Was lernen wir von der Emotionsgeschichte für unseren Alltag?
Die Theoriebildung der Emotionsgeschichte mag akademisch klingen, aber sie hat praktische Konsequenzen. Drei zentrale Erkenntnisse:
Erstens: Emotionen sind flexibler, als wir denken. Wenn Menschen im 18. Jahrhundert „Melancholie“ als produktiven, fast erstrebenswerten Zustand erlebten, zeigt das: Unsere Bewertungen sind kulturell geprägt, nicht absolut. Das heißt: Sie können Ihre Beziehung zu Ihren Gefühlen aktiv gestalten.
Zweitens: Sprache ist Macht. Je präziser Sie Ihre inneren Zustände benennen, umso besser gelingt es, sie zu regulieren. Aber Vorsicht , die vorgegebenen Kategorien engen die Benennung auch ein. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben gezeigt, dass emotionale Granularität (die Fähigkeit, Gefühle differenziert zu benennen) direkt mit psychischer Gesundheit korreliert.
Drittens: Ihre Gefühle sind nicht „falsch“, nur weil sie nicht in gängige Kategorien passen. Vielleicht fehlt nur das Vokabular. Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, betont: „Gefühle schreiben Geschichte“ , aber Geschichte schreibt auch unsere Gefühle.
Welche praktischen Methoden folgen aus Wissenschaftlers Erkenntnissen?
Anstatt beim nächsten starken Gefühl reflexartig nach den Standardkategorien zu greifen („Bin ich jetzt wütend oder traurig?“), versuchen Sie dies:
1. Beschreiben Sie die körperliche Empfindung: Wo im Körper? Welche Qualität? (Eng, weit, pulsierend, stechend?) Diese Praxis des Embodiments erkennt an, dass Gefühle immer auch körperliche Erfahrungen sind , aber ihre Interpretation variiert.
2. Finden Sie einen Vergleich: Wenn dieses Gefühl eine Landschaft wäre , wie sähe sie aus? Diese metaphorische Annäherung umgeht die Einschränkungen vorgegebener Emotionskategorien.
3. Erfinden Sie notfalls ein Wort: „Glasscherbenherz“, „Nebelwut“, „Stahlsehnsucht“ – was auch immer passt. Diese Praxis mag unkonventionell erscheinen, ist aber historisch fundiert. Jede Epoche hat neue emotionale Begriffe geprägt, wenn die alten nicht mehr ausreichten.
4. Notieren Sie es. Bauen Sie Ihr eigenes emotionales Lexikon auf. Diese Praxis ist nicht esoterisch , sie ist neurobiologisch begründet. Durch genaue Bezeichnungen schaffen Sie differenziertere neuronale Verknüpfungen. Das nennt man emotionale Granularität, und sie korreliert direkt mit besserer Emotionsregulation.
Diese Übungen basieren auf der Erkenntnis der Emotionsgeschichte, dass emotionale Kategorien nicht gegeben, sondern gemacht sind. Wenn frühere Generationen ihre eigenen Begriffe schufen (denken Sie an „Weltschmerz“, ein spezifisch deutsches Konzept des 19. Jahrhunderts), schufen Sie das auch.
Warum die Emotionsgeschichte gerade jetzt so bedeutsam ist
Wir leben in einer Zeit zunehmender emotionaler Standardisierung. Die Konjunktur der Emotionsforschung in den vergangenen zwanzig Jahren ist kein Zufall , sie spiegelt ein wachsendes Unbehagen mit reduktionistischen Modellen von Gefühlen wider.
Die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Emotionen sind nicht nur privat, sie strukturieren Märkte. Die „German Angst“ ist nicht nur ein Stereotyp, sondern hat reale ökonomische Konsequenzen , von Sparverhalten bis Risikovermeidung. Dass Gefühle ökonomisch relevant sind, wusste schon Adam Smith. Aber erst die moderne Emotionsgeschichte zeigt systematisch, wie sich diese Zusammenhänge über die Zeit verändern.
Die Psychohistorie, ein Vorläufer der Emotionsgeschichte, versuchte bereits in den 1970ern, psychoanalytische Konzepte auf historische Akteure anzuwenden , scheiterte aber oft daran, kulturelle Differenzen zu ignorieren. Die moderne Emotionsgeschichte, wie sie Wissenschaftler vertreten, macht es besser: Sie erkennt an, dass sowohl biologische als auch kulturelle Faktoren wirken, aber ihre Interaktion ist das Entscheidende.
Im Forschungsbereich der Emotionsgeschichte arbeiten mittlerweile Historiker, Neurowissenschaftler, Anthropologen und Therapeuten zusammen. Diese Interdisziplinarität ermöglicht neue Einsichten , aber auch neue Fragen. Eine zentrale Frage: Wenn Emotionen historisch wandelbar sind, wie „authentisch“ sind dann unsere heutigen Gefühle? Und wessen Interessen dienen sie?
Die sprachliche Integrationslücke: Wenn Gefühle sprachlos machen
Hier liegt eine der größten Fallen moderner Emotionsarbeit: Wir versuchen, unsere Gefühle in vorgefertigte Kategorien zu pressen: „Ist das jetzt Traurigkeit oder Angst?“ , obwohl die innere Erfahrung möglicherweise komplexer ist als die verfügbaren Worte.
Das führt zu dem, was ich die sprachliche Integrationslücke nenne: Sie fühlen etwas, können es aber nicht benennen. Und was nicht benannt werden kann, kann auch nicht vollständig verarbeitet werden.
Ein konkretes Beispiel aus der Praxis: Eine Patientin beschrieb ein Gefühl als „schweres Summen im Brustkorb, das mich lähmt, aber gleichzeitig nach außen will“. Weder Angst noch Wut noch Trauer trafen das genau. Erst als wir eine eigene Bezeichnung erarbeitet hatten, „eingefrorene Dringlichkeit“ , konnte sie damit arbeiten.
Die Emotionsgeschichte lehrt uns: Neue historische Situationen erfordern neue emotionale Konzepte. Die Pandemie hat Gefühlslagen erzeugt, für die es zunächst keine Namen gab , bis altertümliche Begriffe wie „languishing“ (ein Wort für Corona-Blues, ein diffuses Gefühl von Stagnation und Leere) populär wurden. Diese Benennung war nicht nur deskriptiv, sondern therapeutisch: Sie ermöglichte Menschen, ihre Erfahrung zu bestätigen und zu teilen.
Kritische Reflexion: Die Grenzen der Emotionsgeschichte
Es wäre unehrlich, die Kritik an diesem Forschungsgebiet zu verschweigen. Einige Neurowissenschaftler argumentieren, dass die Betonung kultureller Variabilität die biologischen Gemeinsamkeiten unterschätzt. Andere kritisieren, dass die Emotionsgeschichte manchmal zu konstruktivistisch wird , als ob es keine körperliche Realität von Schmerz oder Angst gäbe, unabhängig von ihrer kulturellen Interpretation.
Diese Einwände sind ernst zu nehmen. Die stärksten Arbeiten in der Emotionsgeschichte (wie die von Plamper, Frevert oder Reddy) navigieren zwischen beiden Polen: Sie erkennen biologische Grundlagen an, zeigen aber, wie deren Erfahrung, Ausdruck und Bedeutung kulturell moduliert werden.
Eine weitere Kritik: Die Emotionsgeschichte kann auch elitär werden. Viele Studien konzentrieren sich auf schriftliche Quellen , Briefe, Tagebücher, literarische Texte. Diese Quellen stammen überproportional von gebildeten, privilegierten Menschen. Wie fühlten die Analphabeten? Die Versklavten? Die Ausgeschlossenen? Hier hat die Emotionsgeschichte noch Arbeit vor sich.
Die wichtigsten Erkenntnisse, was Sie mitnehmen sollten:
• Emotionen haben Geschichte: Gefühle sind nicht universelle Konstanten, sondern unterliegen zeitlichem Wandel und kultureller Prägung
• Wissenschaftliche Grundlagen: Die Emotionsgeschichte zeigt methodisch, wie Gefühle zwischen biologischer Realität und kultureller Konstruktion entstehen..
• Sprache formt Erfahrung: Je präziser Ihr emotionales Vokabular, desto differenzierter Ihre neuronale Verarbeitung und Regulationsfähigkeit.
• Emotionale Gemeinschaften: Jede Epoche und Kultur definiert, welche Gefühle legitim sind. Diese Normen sind verhandelbar, nicht absolut.
• Praktische Anwendung: Wenn gängige Emotionskategorien nicht passen, erfinden Sie eigene Begriffe , das ist historisch fundiert und therapeutisch wirksam.
• Politische Dimension: Gefühle sind nie nur privat , sie strukturieren Macht, Politik und Wirtschaft.
• Biologisch UND kulturell: Emotionen haben körperliche Grundlagen, aber ihre Erfahrung wird durch Kultur, Sprache und Geschichte geformt
• Aktuelle Relevanz: In Zeiten emotionaler Standardisierung (durch Diagnostik, Apps, Ratgeberliteratur) erinnert die Emotionsgeschichte daran, dass emotionale Vielfalt normal und wertvoll ist
• Therapeutische Implikation: Was heute als „emotionale Störung“ gilt, könnte in anderen Kontexten als normale Variation oder sogar Stärke gelten
• Ihre emotionale Autonomie: Das Wissen, dass emotionale Normen historisch wandelbar sind, gibt Ihnen Freiheit, Ihre eigene Beziehung zu Gefühlen zu gestalten
Reflexionsfrage: Gibt es ein Gefühl in Ihrem Leben, das Sie immer wieder erleben, für das Sie aber keine passende Bezeichnung haben? Wie würden Sie es benennen, wenn Sie völlig frei wären , ohne Rücksicht auf therapeutische Kategorien oder kulturelle Erwartungen?
Diese Gedanken sind Teil der Vorbereitung zum Workshop „Emotionsregulation jenseits der Kategorien“ im Gutshaus Ludorf, 16.–18. Januar 2026.
🗓️ Einladung zum Workshop-Wochenende in Ludorf
Möchten Sie lernen, wie Sie die „Integrationslücke“ schließen und Ihr emotionales Wissen in verlässliche innere Stabilität verwandeln?
Am Wochenende vom 16. bis 18. Januar 2026 lädt Dr. med. Dirk Stemper zum Workshop-Retreat in das historische Gutshaus Ludorf (ca. 140 km von Berlin) ein. Das Seminar trägt den Titel:
„Wie regulieren wir unsere Emotionen – ohne uns selbst zu verlieren?“
Freitag, 16. Januar (Abend): Kostenlose Buchvorstellung mit einem kostenlosen Exemplar für jeden Teilnehmer.
Samstag und Sonntag (Workshop): Intensiv-Seminar (max. 12 Teilnehmer) zur Vertiefung des SYSTEM-Frameworks und der Arbeit mit Bindungsmustern und Co-Regulation.
Preis Workshop: 250 € zzgl. Unterkunft und Verpflegung.
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DESCRIPTION:
Geschichte und Gefühl: Emotionen historisch und kulturell – ein Überblick.
Emotionsgeschichte: Warum unsere Gefühle historisch und kulturell anders sind als die unserer Vorfahren
Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, Ihre Emotionen „passen nicht“, wenn Sie sich fragen, warum Emotionsregulation manchmal nicht funktioniert, oder wenn Sie verstehen möchten, warum Selbsthilfeansätze kulturell begrenzt sind, dann liefert die Emotionsgeschichte überraschende Antworten.
Worum es geht:
· dass Emotionen nicht universell und unveränderlich sind, sondern historisch und kulturell geprägt,
· warum das Verständnis der Emotionsgeschichte Ihre eigene Emotionsregulation grundlegend verändert, und,
· warum dieses Thema mehr ist als akademische Theorie.
Jan Plamper, Professor für Geschichte an der Goldsmiths, University of London, hat mit einem viel beachteten Buch: „Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte“ (2015) das boomende Forschungsgebiet der Emotionsgeschichte für Laien systematisiert. Auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat unter der Leitung von Ute Frevert, einer führenden Historikerin auf diesem Gebiet, gezeigt: Emotionen haben Geschichte. Sie sind wandelbar. Und das hat massive Konsequenzen für unser Verständnis von emotionaler Gesundheit, Therapie und Selbstregulation.
Dieser Post verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Anwendungen für Ihre Emotionen im Alltag.
Was ist Emotionsgeschichte?
Emotionsgeschichte untersucht, wie Menschen in verschiedenen Epochen ihre Gefühle erlebten, ausdrückten und regulierten und wie sich das im Laufe der Zeit veränderte.
Was macht diesen Ansatz so revolutionär? Wissenschaftler argumentieren, dass Gefühle nicht einfach biologische Konstanten sind, die über die Jahrhunderte gleichbleiben. Stattdessen sind sie einem zeitlichen Wandel unterworfen. Die Art, wie ein Mensch im Mittelalter Zorn oder Schuld empfinden konnte, unterschied sich fundamental von unseren heutigen Erfahrungen , nicht nur in der Benennung, sondern in der neuronalen Verarbeitung selbst.
Wie Wissenschaftler die Grundlagen der Emotionsgeschichte definiert
„Grundlagen der Emotionsgeschichte“ legt dar, wie sich dieses Forschungsgebiet entwickelt hat. Von den frühen Arbeiten des französischen Historikers Lucien Febvre, der bereits 1941 in den „Annales d'Histoire Sociale“ die Frage stellte, ob man eine „Geschichte des Hasses“ schreiben könne, bis zu zeitgenössischen Ansätzen.
Historiker der Gefühle verfolgen verschiedene theoretische Ansätze: Die konstruktivistische Position (vertreten durch William Reddy und seine Theorie der „emotives“) besagt, dass Emotionen eigentlich Sprachhandlungen (performative Sprechakte) sind: Sie werden durch ihre sprachliche Formulierung regelrecht hergestellt. Die praxeologische Schule (Monique Scheer) sieht Emotionen als erlernte Praktiken. Und neurowissenschaftliche Ansätze ziehen Hirnprozesse zur Erklärung von Emotionen heran, ohne in biologischen Determinismus zu verfallen.
Der gemeinsame Nenner aller dieser Richtungen ist: Emotionen sind weder rein biologisch noch rein kulturell, sondern entstehen in der Wechselwirkung beider Sphären. Darum haben Gefühle körperliche Realität und unterliegen gleichzeitig historischer Veränderung .
Fühlten unsere Vorfahren wirklich anders? Geschichte und Gefühl im Wandel
Hier wird es konkret. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Jahr 1750 in einem Salon und erzählen den Anwesenden, dass Sie sich „gestresst“ fühlen. Die Reaktion? Blankes Unverständnis. Das Wort existierte in diesem Sinne noch nicht. Nicht, weil die Menschen damals nicht unter Druck standen , sondern weil sie ihre inneren Zustände anders kategorisierten, anders fühlten, anders ausdrückten.
Die Geschichte der Emotionen zeigt: Was wir heute als „Depression“ diagnostizieren würden, galt im 18. Jahrhundert als „Melancholie“ , ein Zustand, der sogar als Zeichen von Tiefe und Intellektualität gewertet wurde. Im sogenannten therapeutischen Zeitalter des 20. Jahrhunderts wurde dieselbe Erfahrung pathologisiert und behandlungsbedürftig.
Barbara Rosenwein, eine weitere Pionierin der Emotionsforschung, prägte den Begriff der „emotionalen Gemeinschaften“ , Gruppen, die festlegen, welche Gefühle wie ausgedrückt werden dürfen. Im Mittelalter war öffentliches Weinen bei Männern ein Zeichen von Stärke und Leidenschaft. Heute gilt es als Schwäche. Hat sich die Biologie geändert? Nein. Aber die kulturellen Gefühlsnormen und damit die neuronale Verarbeitung schon.
Warum Emotionshistoriker das ändern, was wir über Gefühle denken
Die Emotionsgeschichte hat viele aktuelle Debatten beeinflusst , von Diskussionen über „German Angst“ bis zur Frage nach der Willensfreiheit. Wissenschaftler wie Benno Gammerl, Margrit Pernau und Bettina Hitzer haben gezeigt: Wenn Emotionen kulturell geprägt sind, dann können wir sie auch aktiv gestalten.
Das hat praktische Konsequenzen. Die Ratgeberliteratur geht meist davon aus, dass es „richtige“ und „falsche“ Emotionen gibt , universell gültige Standards emotionaler Gesundheit. Aber diese Standards sind selbst historische Produkte. Was heute als „emotional intelligent“ gilt, wäre in anderen Epochen als Schwäche oder gar Unaufrichtigkeit bewertet worden.
Peter Stearns prägte den Begriff „Emotionology“ , die Untersuchung gesellschaftlicher Standards für emotionalen Ausdruck. Seine Forschung zeigt: Verändern sich Moral und Ehre im Laufe der Zeit, verändert sich auch, wie Menschen rachsüchtig oder stolz reagieren. Moral und Ehre im Laufe der Geschichte sind keine Konstanten, sondern Verhandlungsprozesse.
Was hat Stalin mit unseren Emotionen zu tun? Wissenschaftlers Forschung
Bevor Plamper „Geschichte und Gefühl“ schrieb, verfasste er „The Stalin Cult: A Study in the Alchemy of Power“ (2012) , eine Untersuchung darüber, wie emotionale Bindung an einen Diktator erzeugt wird. Diese Forschung zum Stalinismus zeigt: Gefühle sind nicht nur privat, sie haben massiven politischen Einfluss auf ihr Handeln.
Der Stalin-Kult funktionierte, weil er spezifische Affekte erzeugte , eine Mischung aus Angst, Verehrung, und dem, was man „affective loyalty“ nennen könnte. Diese Emotionen wurden systematisch kultiviert durch Rituale, Sprache visuelle Propaganda. Sie waren nicht „natürlich“ oder „spontan“, sondern das Ergebnis emotionaler Erziehung.
Was bedeutet das für uns heute? Dass Gefühle niemals „nur persönlich“ sind. Sie werden geformt durch Macht, Politik, Medien. Die Macht der Gefühle liegt darin, dass sie als „authentisch“ und „ungefiltert“ erscheinen , während sie tatsächlich hochgradig sozial konstruiert sind. Das zu verstehen, ist der erste Schritt zur emotionalen Autonomie.
Sind Emotionen universell oder kulturell? Die zentrale Debatte
Dies ist die Kernfrage der Emotionsgeschichte: Gibt es universelle Basisemotionen (wie Paul Ekman behauptet), oder sind alle Gefühle kulturelle Konstrukte? Wissenschaftler navigiert geschickt zwischen diesen Polen.
Die Position, dass Gefühle universell und biologisch determiniert sind, hat ihren Reiz , sie ist einfach, messbar, scheinbar objektiv. Aber die Geschichtswissenschaft zeigt: Selbst, wenn es biologische Grundlagen gibt (und die gibt es), wird ihre Erfahrung, ihr Ausdruck und ihre Bedeutung kulturell geformt.
Ein Beispiel: Der Affekt „Ärger“ mag neurobiologisch ähnlich sein bei einem mittelalterlichen Ritter und einem modernen Manager. Aber wie dieser Ärger interpretiert wird (als rechtmäßige Verteidigung der Ehre vs. als Kontrollverlust), wie er ausgedrückt wird (Duell vs. passive Aggression) und welche Konsequenzen er hat (Statusgewinn vs. Therapiebedürftigkeit) , das ist historisch und kulturell gebunden.
Die Begriffsgeschichte des Wortes „Gefühl“ selbst ist aufschlussreich. Wilhelm Dilthey unterschied im 19. Jahrhundert zwischen „Gefühl“ (dem subjektiven Erleben) und „Stimmung“ (dem anhaltenden Grundton). Diese Differenzierung existierte in früheren Epochen nicht und fehlt in vielen anderen Sprachen.
Wie die Geschichte der Gefühle unser Verständnis von Emotionsregulation verändert
Wenn Sie jemals das Gefühl hatten, Ihre Emotionen „passen nicht“ , dann spüren Sie die Spannung zwischen Ihrer inneren Erfahrung und den verfügbaren kulturellen Kategorien. Sie haben möglicherweise ein Gefühl, für das es in Ihrer emotionalen Gemeinschaft keine Sprache gibt. Oder schlimmer: ein Gefühl, das als „illegitim“ gilt.
Neurobiologisch gesehen: Das limbische System generiert Affekte. Aber erst die Hirnrinde, beeinflusst durch Sprache, Kultur undErziehung, macht daraus benannte Emotionen. Dieser Prozess ist nicht neutral. Er wird geformt durch die ungeschriebenen Regeln seiner Zeit. Die Neurowissenschaft bestätigt, was die Emotionshistoriker argumentieren: Kategorisierung verändert Erfahrung.
Wenn Sie also lernen, „Ihre Emotionen besser zu regulieren“, lernen Sie oft: „Fühle so, wie es in deiner Gemeinschaft akzeptabel ist.“ Das ist hilfreich. Es ist aber auch eine unterschwellige Form der Selbstverleugnung. Die Emotionsgeschichte zeigt: Jede Epoche hatte andere Vorstellungen davon, welche Gefühle „gut“ oder „schlecht“ sind.
Was lernen wir von der Emotionsgeschichte für unseren Alltag?
Die Theoriebildung der Emotionsgeschichte mag akademisch klingen, aber sie hat praktische Konsequenzen. Drei zentrale Erkenntnisse:
Erstens: Emotionen sind flexibler, als wir denken. Wenn Menschen im 18. Jahrhundert „Melancholie“ als produktiven, fast erstrebenswerten Zustand erlebten, zeigt das: Unsere Bewertungen sind kulturell geprägt, nicht absolut. Das heißt: Sie können Ihre Beziehung zu Ihren Gefühlen aktiv gestalten.
Zweitens: Sprache ist Macht. Je präziser Sie Ihre inneren Zustände benennen, umso besser gelingt es, sie zu regulieren. Aber Vorsicht , die vorgegebenen Kategorien engen die Benennung auch ein. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben gezeigt, dass emotionale Granularität (die Fähigkeit, Gefühle differenziert zu benennen) direkt mit psychischer Gesundheit korreliert.
Drittens: Ihre Gefühle sind nicht „falsch“, nur weil sie nicht in gängige Kategorien passen. Vielleicht fehlt nur das Vokabular. Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, betont: „Gefühle schreiben Geschichte“ , aber Geschichte schreibt auch unsere Gefühle.
Welche praktischen Methoden folgen aus Wissenschaftlers Erkenntnissen?
Anstatt beim nächsten starken Gefühl reflexartig nach den Standardkategorien zu greifen („Bin ich jetzt wütend oder traurig?“), versuchen Sie dies:
1. Beschreiben Sie die körperliche Empfindung: Wo im Körper? Welche Qualität? (Eng, weit, pulsierend, stechend?) Diese Praxis des Embodiments erkennt an, dass Gefühle immer auch körperliche Erfahrungen sind , aber ihre Interpretation variiert.
2. Finden Sie einen Vergleich: Wenn dieses Gefühl eine Landschaft wäre , wie sähe sie aus? Diese metaphorische Annäherung umgeht die Einschränkungen vorgegebener Emotionskategorien.
3. Erfinden Sie notfalls ein Wort: „Glasscherbenherz“, „Nebelwut“, „Stahlsehnsucht“ – was auch immer passt. Diese Praxis mag unkonventionell erscheinen, ist aber historisch fundiert. Jede Epoche hat neue emotionale Begriffe geprägt, wenn die alten nicht mehr ausreichten.
4. Notieren Sie es. Bauen Sie Ihr eigenes emotionales Lexikon auf. Diese Praxis ist nicht esoterisch , sie ist neurobiologisch begründet. Durch genaue Bezeichnungen schaffen Sie differenziertere neuronale Verknüpfungen. Das nennt man emotionale Granularität, und sie korreliert direkt mit besserer Emotionsregulation.
Diese Übungen basieren auf der Erkenntnis der Emotionsgeschichte, dass emotionale Kategorien nicht gegeben, sondern gemacht sind. Wenn frühere Generationen ihre eigenen Begriffe schufen (denken Sie an „Weltschmerz“, ein spezifisch deutsches Konzept des 19. Jahrhunderts), schufen Sie das auch.
Warum die Emotionsgeschichte gerade jetzt so bedeutsam ist
Wir leben in einer Zeit zunehmender emotionaler Standardisierung. Die Konjunktur der Emotionsforschung in den vergangenen zwanzig Jahren ist kein Zufall , sie spiegelt ein wachsendes Unbehagen mit reduktionistischen Modellen von Gefühlen wider.
Die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Emotionen sind nicht nur privat, sie strukturieren Märkte. Die „German Angst“ ist nicht nur ein Stereotyp, sondern hat reale ökonomische Konsequenzen , von Sparverhalten bis Risikovermeidung. Dass Gefühle ökonomisch relevant sind, wusste schon Adam Smith. Aber erst die moderne Emotionsgeschichte zeigt systematisch, wie sich diese Zusammenhänge über die Zeit verändern.
Die Psychohistorie, ein Vorläufer der Emotionsgeschichte, versuchte bereits in den 1970ern, psychoanalytische Konzepte auf historische Akteure anzuwenden , scheiterte aber oft daran, kulturelle Differenzen zu ignorieren. Die moderne Emotionsgeschichte, wie sie Wissenschaftler vertreten, macht es besser: Sie erkennt an, dass sowohl biologische als auch kulturelle Faktoren wirken, aber ihre Interaktion ist das Entscheidende.
Im Forschungsbereich der Emotionsgeschichte arbeiten mittlerweile Historiker, Neurowissenschaftler, Anthropologen und Therapeuten zusammen. Diese Interdisziplinarität ermöglicht neue Einsichten , aber auch neue Fragen. Eine zentrale Frage: Wenn Emotionen historisch wandelbar sind, wie „authentisch“ sind dann unsere heutigen Gefühle? Und wessen Interessen dienen sie?
Die sprachliche Integrationslücke: Wenn Gefühle sprachlos machen
Hier liegt eine der größten Fallen moderner Emotionsarbeit: Wir versuchen, unsere Gefühle in vorgefertigte Kategorien zu pressen: „Ist das jetzt Traurigkeit oder Angst?“ , obwohl die innere Erfahrung möglicherweise komplexer ist als die verfügbaren Worte.
Das führt zu dem, was ich die sprachliche Integrationslücke nenne: Sie fühlen etwas, können es aber nicht benennen. Und was nicht benannt werden kann, kann auch nicht vollständig verarbeitet werden.
Ein konkretes Beispiel aus der Praxis: Eine Patientin beschrieb ein Gefühl als „schweres Summen im Brustkorb, das mich lähmt, aber gleichzeitig nach außen will“. Weder Angst noch Wut noch Trauer trafen das genau. Erst als wir eine eigene Bezeichnung erarbeitet hatten, „eingefrorene Dringlichkeit“ , konnte sie damit arbeiten.
Die Emotionsgeschichte lehrt uns: Neue historische Situationen erfordern neue emotionale Konzepte. Die Pandemie hat Gefühlslagen erzeugt, für die es zunächst keine Namen gab , bis altertümliche Begriffe wie „languishing“ (ein Wort für Corona-Blues, ein diffuses Gefühl von Stagnation und Leere) populär wurden. Diese Benennung war nicht nur deskriptiv, sondern therapeutisch: Sie ermöglichte Menschen, ihre Erfahrung zu bestätigen und zu teilen.
Kritische Reflexion: Die Grenzen der Emotionsgeschichte
Es wäre unehrlich, die Kritik an diesem Forschungsgebiet zu verschweigen. Einige Neurowissenschaftler argumentieren, dass die Betonung kultureller Variabilität die biologischen Gemeinsamkeiten unterschätzt. Andere kritisieren, dass die Emotionsgeschichte manchmal zu konstruktivistisch wird , als ob es keine körperliche Realität von Schmerz oder Angst gäbe, unabhängig von ihrer kulturellen Interpretation.
Diese Einwände sind ernst zu nehmen. Die stärksten Arbeiten in der Emotionsgeschichte (wie die von Plamper, Frevert oder Reddy) navigieren zwischen beiden Polen: Sie erkennen biologische Grundlagen an, zeigen aber, wie deren Erfahrung, Ausdruck und Bedeutung kulturell moduliert werden.
Eine weitere Kritik: Die Emotionsgeschichte kann auch elitär werden. Viele Studien konzentrieren sich auf schriftliche Quellen , Briefe, Tagebücher, literarische Texte. Diese Quellen stammen überproportional von gebildeten, privilegierten Menschen. Wie fühlten die Analphabeten? Die Versklavten? Die Ausgeschlossenen? Hier hat die Emotionsgeschichte noch Arbeit vor sich.
Die wichtigsten Erkenntnisse, was Sie mitnehmen sollten:
• Emotionen haben Geschichte: Gefühle sind nicht universelle Konstanten, sondern unterliegen zeitlichem Wandel und kultureller Prägung
• Wissenschaftliche Grundlagen: Die Emotionsgeschichte zeigt methodisch, wie Gefühle zwischen biologischer Realität und kultureller Konstruktion entstehen..
• Sprache formt Erfahrung: Je präziser Ihr emotionales Vokabular, desto differenzierter Ihre neuronale Verarbeitung und Regulationsfähigkeit.
• Emotionale Gemeinschaften: Jede Epoche und Kultur definiert, welche Gefühle legitim sind. Diese Normen sind verhandelbar, nicht absolut.
• Praktische Anwendung: Wenn gängige Emotionskategorien nicht passen, erfinden Sie eigene Begriffe , das ist historisch fundiert und therapeutisch wirksam.
• Politische Dimension: Gefühle sind nie nur privat , sie strukturieren Macht, Politik und Wirtschaft.
• Biologisch UND kulturell: Emotionen haben körperliche Grundlagen, aber ihre Erfahrung wird durch Kultur, Sprache und Geschichte geformt
• Aktuelle Relevanz: In Zeiten emotionaler Standardisierung (durch Diagnostik, Apps, Ratgeberliteratur) erinnert die Emotionsgeschichte daran, dass emotionale Vielfalt normal und wertvoll ist
• Therapeutische Implikation: Was heute als „emotionale Störung“ gilt, könnte in anderen Kontexten als normale Variation oder sogar Stärke gelten
• Ihre emotionale Autonomie: Das Wissen, dass emotionale Normen historisch wandelbar sind, gibt Ihnen Freiheit, Ihre eigene Beziehung zu Gefühlen zu gestalten
Reflexionsfrage: Gibt es ein Gefühl in Ihrem Leben, das Sie immer wieder erleben, für das Sie aber keine passende Bezeichnung haben? Wie würden Sie es benennen, wenn Sie völlig frei wären , ohne Rücksicht auf therapeutische Kategorien oder kulturelle Erwartungen?
Diese Gedanken sind Teil der Vorbereitung zum Workshop „Emotionsregulation jenseits der Kategorien“ im Gutshaus Ludorf, 16.–18. Januar 2026.
🗓️ Einladung zum Workshop-Wochenende in Ludorf
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Am Wochenende vom 16. bis 18. Januar 2026 lädt Dr. med. Dirk Stemper zum Workshop-Retreat in das historische Gutshaus Ludorf (ca. 140 km von Berlin) ein. Das Seminar trägt den Titel:
„Wie regulieren wir unsere Emotionen – ohne uns selbst zu verlieren?“
Freitag, 16. Januar (Abend): Kostenlose Buchvorstellung mit einem kostenlosen Exemplar für jeden Teilnehmer.
Samstag und Sonntag (Workshop): Intensiv-Seminar (max. 12 Teilnehmer) zur Vertiefung des SYSTEM-Frameworks und der Arbeit mit Bindungsmustern und Co-Regulation.
Preis Workshop: 250 € zzgl. Unterkunft und Verpflegung.
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