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Kindheitstrauma: Ersatzkind-Syndrom – Korrektur eines Irrtums

Ersatzkind-Syndrom: Neue Perspektiven auf Traumabewältigung und emotionale Entwicklung in Familien

Die Konzepte des „Ersatzkind-Syndroms“ greifen häufig auf Kristina E. Schellinkis Vorstellungen zurück, die allerdings geprägt sind durch ihre theoretische Ausrichtung an der Psychoanalyse nach C. G. Jung.

Danach litten „Ersatzkinder“ an einer Identitätsstörung durch ihre Position in der Geschwisterreihe. Verursacht werden soll diese Störung durch die Eltern, die dem Nachgeborenen eine fremde Identität aufzwingen würden. Woher diese Eltern diese Identität bis ins Erwachsenenalter kennen sollen, wenn das ältere Geschwister früh verstorben ist, und wie die Übertragung dieser Identität auf das jüngere Geschwister stattfinden soll, erklärt Schellinski bestenfalls lückenhaft.

Statt einer schicksalhaften und durch keinerlei Anstrengung veränderbare Position in der Geschwisterreihe, ermöglicht André Greens Begriff der „toten Mutter“ ein deutlich praxisbezogeneres und tiefgreifenderes Verständnis von Kindheiten in Familien, die einen Verlust erlebt haben. In diesem Beitrag werden die komplexen Wechselwirkungen zwischen der unverarbeiteten Trauer der Eltern und den daraus resultierenden emotionalen Belastungen für Kinder untersucht.

1. Einleitung

Die Kindersterblichkeit hat sich von der Antike bis zur Moderne deutlich verändert. Hier ein Überblick über die historische Entwicklung.

Kindersterblichkeit

In der Antike war die Kindersterblichkeit extrem hoch. Es wird geschätzt, dass etwa 30 % bis 50 % der Kinder das Erwachsenenalter nicht erreichten. Krankheiten, mangelnde medizinische Versorgung und Hygiene sowie hohe Geburtenraten trugen zu dieser hohen Sterblichkeitsrate bei.

Auch im Mittelalter blieb die Kindersterblichkeit hoch, ähnlich wie in der Antike. Epidemien wie die Pest, schlechte Ernährung und hygienische Bedingungen waren Hauptfaktoren für die hohe Sterblichkeitsrate.

in der Frühen Neuzeit, vom 16. bis 18. Jahrhundert, verbesserten sich die Lebensbedingungen leicht, aber die Kindersterblichkeit blieb weiterhin hoch. Es wird geschätzt, dass etwa ein Drittel der Kinder vor dem fünften Lebensjahr starb.

Mit der industriellen Revolution begannen sich im 19. Jahrhundert die Lebensbedingungen langsam zu verbessern. Trotzdem blieb die Kindersterblichkeit hoch, insbesondere in städtischen Gebieten, aufgrund schlechter Wohnbedingungen und mangelnder Hygiene.

Im 20. Jahrhundert kam es zu einem dramatischen Rückgang der Kindersterblichkeit, vornehmlich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Dies war auf Verbesserungen in der Medizin, Hygiene, Ernährung und allgemeinen Lebensbedingungen zurückzuführen. Impfungen und Antibiotika spielten eine entscheidende Rolle bei der Senkung der Sterblichkeitsraten.

Heute ist die Kindersterblichkeit in den meisten Teilen der Welt auf ein historisch niedriges Niveau gesunken, speziell in entwickelten Ländern. Jedoch gibt es weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen der Welt. Die Säuglingssterblichkeit ist in Deutschland für beide Geschlechter enorm zurückgegangen. 1990 betrug sie noch acht Jungen und sechs Mädchen, jeweils bezogen auf 1 000 Lebendgeborene. Bis zum Jahr 2008 haben sich diese Werte halbiert. 2018 lag sie bei den Mädchen immer noch bei etwa 3 je 1000 Lebendgeborene, bei den Jungen bei 3,5 je 1000 Lebendgeborene.

Geburtenrate

Zeitgleich hat sich auch die Anzahl der Kinder pro Familie in Europa über die Jahrhunderte stark verändert und variierte teils erheblich zwischen der Elite und der ärmeren Bevölkerung. Hier sind einige geschätzte Zahlen: bis zur frühen Neuzeit hatten adelige und wohlhabende Familien oft viele Kinder, manchmal bis zu 10 oder mehr, nicht zuletzt, um Erben für Titel, Land und Reichtum zu sichern. Allerdings war die Kindersterblichkeit auch in diesen Kreisen hoch. In der ärmeren Bevölkerung waren große Familien mit sechs oder mehr Kindern üblich. Kinder galten als Arbeitskräfte, besonders in der Landwirtschaft, und trugen zum Haushaltseinkommen bei. Hohe Geburtenraten waren aber auch hier eine Reaktion auf die hohe Kindersterblichkeit.

Im 19. Jahrhundert sank die Anzahl der Kinder in adeligen und wohlhabenden Familien leicht, lag aber oft immer noch bei vier oder mehr Kindern. In der armen Bevölkerung blieben große Familien weiterhin die Norm.

Im 20. Jahrhundert sank die Familiengröße in der Elite weiter, teilweise aufgrund veränderter Lebensstile und erhöhtem Zugang zu Familienplanung. Drei bis vier Kinder waren häufig. In diesem Zeitraum begann auch in der ärmeren Bevölkerung die Zahl der Kinder pro Familie zu sinken, insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Dies war auf verbesserte Bildung, Zugang zu Verhütungsmitteln und Veränderungen in den wirtschaftlichen Bedingungen zurückzuführen.

Die historische Entwicklung der Geburtenrate und der Kindersterblichkeit zeigt, wie eng beide mit Faktoren wie medizinischem Fortschritt, sozioökonomischen Bedingungen, Ernährung und öffentlicher Gesundheitspflege verknüpft ist. Zu unterstellen, sämtliche Eltern, oder auch nur die Mehrzahl, seien in der Vergangenheit außerstande gewesen, den frühen Verlust mehrerer Kinder zu bewältigen, und später geborene Kinder hätten deswegen alle unter Identitätsstörungen leiden müssen, hieße unterstellen, dass in der Frühzeit ein Drittel bis die Hälfte der Erwachsenen in Europa – nur aufgrund ihrer Position in der Geschwisterreihe – mit psychischen Problemen zu kämpfen gehabt hätte. Diese Annahme leuchtet nicht einmal dann ein, wenn man zugeben muss, dass es, unter Berücksichtigung von Seuchen, Kriegen und Hungersnöten, aber auch religiösen Vorstellungen vom irdischen Schicksal des Menschen, unmöglich ist, zuverlässige Schätzung zur Häufigkeit vorzunehmen.

Die logische Schlussfolgerung aus verbreiteten Vorstellungen zum Ersatzkind-Syndrom wäre, Eltern nach dem frühen Verlust eines Kindes oder einer Fehlgeburt davon abzuraten, erneut ein Kind zu bekommen, um nachgeborene Kinder vor Schaden zu bewahren. Das wäre aber ebenso wenig einleuchtend und außerdem unmenschlich. Nach einem früh verstorbenen Geschwister zur Welt zu kommen oder auch seinen Namen zu tragen, ist nicht notwendigerweise mit einer gestörten Entwicklung verbunden. Traditionell erhielten Kinder Namen von lebenden oder verstorbenen Familienmitgliedern. Das erklärt mindestens zum Teil, warum Kinder auch Namen verstorbener Geschwister erhielten. Irgendeine „Wiedergeburtserwartung“ war an diese Namenstradition in der Regel nicht geknüpft.

Ersatzkinder: die pathologische Trauer der Eltern

Die Position in der Geschwisterreihe und der Name eines verstorbenen Geschwisterchens sind daher für das Ersatzkind-Syndrom weitaus weniger bedeutsam als eine unbewältigte Trauer der Familie. Pathologische Trauer, auch bekannt als komplizierte Trauer oder persistierende komplexe Trauerstörung, bezeichnet eine Form der Trauer, die intensiver und länger anhaltend ist als die übliche Trauerreaktion. Sie wird durch folgende Merkmale definiert:

  1. Intensität und Dauer: Pathologische Trauer ist durch eine ungewöhnlich starke und lang anhaltende Trauerreaktion gekennzeichnet. Während Trauer normalerweise mit der Zeit abnimmt, bleibt die pathologische Trauer intensiv und kann sich über Jahre hinziehen.
  2. Funktionsbeeinträchtigung: Diese Form der Trauer beeinträchtigt signifikant das tägliche Funktionieren. Betroffene können Schwierigkeiten haben, ihre alltäglichen Aufgaben zu erledigen, sich von sozialen Aktivitäten zurückziehen und Probleme bei der Arbeit oder in der Schule haben.
  3. Intrusive Gedanken: Ständige, aufdringliche Gedanken an den Verstorbenen, die nicht nachlassen und das tägliche Leben beeinträchtigen, sind ein weiteres Merkmal der pathologischen Trauer.
  4. Emotionale Betäubung: Ein intensives Gefühl der Leere oder Gefühllosigkeit, das über das hinausgeht, was in der normalen Trauer üblich ist.
  5. Vermeidung: Menschen mit pathologischer Trauer können Orte, Menschen oder Aktivitäten vermeiden, die Erinnerungen an den Verstorbenen hervorrufen.
  6. Körperliche Symptome: Schlafstörungen, Appetitverlust und andere körperliche Symptome können ebenfalls auftreten und sind oft schwerwiegender als bei normaler Trauer.
  7. Intensive Sehnsucht oder Verlangen: Ein überwältigendes Verlangen nach dem Verstorbenen oder das Gefühl, nicht ohne die verstorbene Person leben zu können.
  8. Negatives Selbstbild: Gefühle von Wertlosigkeit oder Schuld, die über normale Trauerschuldgefühle hinausgehen, besonders wenn sie mit dem Tod in Verbindung gebracht werden.

Das Ersatzkind-Syndrom tritt auf, wenn ein Kind in eine Familie geboren wird, die geprägt ist, von erfolglosen Anstrengungen zur Bewältigung eines Verlustes. Wie noch zu sehen sein wird, trifft das aber nicht nur auf später geborene Geschwister zu, sondern auch auf ältere. Die Belastung für das Kind wurzelt nämlich in der emotionalen Dynamik in der Familie.

In Familien, die vom Ersatzkind-Syndrom betroffen sind, können verschiedene Typen von Dynamiken auftreten. Diese werden durch die unvollständige Bewältigung der Trauer der Eltern und die daraus resultierende emotionale Abwesenheit geprägt. Die folgenden Muster beschreiben solche unglücklichen Familienkonstellationen:

  1. Überbehütende Dynamik (das „gefesselte Kind“): In dieser Dynamik reagieren die Eltern übermäßig besorgt und schützend gegenüber dem Kind. Sie versuchen, das Kind vor jeglichem potenziellen Leid zu bewahren, was die Selbstständigkeit und Unternehmungslust des Kindes natürlich einschränken muss.
  2. Erwartungsbeladene Dynamik (das „wiederauferstandene Kind“): Hier projizieren die Eltern ihre unerfüllten Erwartungen und Träume auf das Kind. Das Kind wird unbewusst als Ersatz für das verlorene Geschwisterkind oder als Träger der unerfüllten Hoffnungen der Eltern angesehen. Dies kann zu einem hohen Leistungsdruck beim Kind führen.
  3. Vernachlässigende Dynamik (das „verwunschene Kind“): In dieser Konstellation ziehen sich die Eltern emotional zurück und vernachlässigen die emotionalen Bedürfnisse des Kindes. Das Kind fühlt sich oft übersehen und unzureichend unterstützt, was zu Gefühlen der Isolation und Vernachlässigung führen kann.
  4. Konflikthafte Dynamik (das „heilende Kind“): In manchen Familien führt die unverarbeitete Trauer zu anhaltenden Konflikten und Spannungen. Das Kind kann in die Rolle des Schlichters oder des Sündenbocks gedrängt werden, was seine Entwicklung beeinträchtigen kann.
  5. Ambivalente Dynamik (das „doppelte Kind“): Hier erlebt das Kind eine Mischung aus Nähe und Distanz, Unterstützung und Ablehnung. Diese Ambivalenz kann für das Kind verwirrend sein und es fällt ihm schwer, eine klare und sichere Bindung zu den Eltern aufzubauen.
  6. Überlebensschuld (das „unerwünschte Kind“: Das Kind wird zurückgewiesen und erlebt sich als nicht gut genug, um Liebe zu verdienen. Im schlimmsten Fall erfährt es den Vorwurf, dass es am Leben sei, während dem armen verstorbenen Geschwister das Leben verwehrt geblieben sei.

Jede dieser Dynamiken hat traumatisierende Folgen für die emotionale und psychologische Entwicklung des Kindes, unabhängig davon, ob es zum Zeitpunkt des Verlustes bereits lebte oder erst danach zur Welt kam, und unabhängig davon, ob Anlass zur Trauer in der Familie der Verlust eines Geschwisters oder ein anderer war. Entscheidend für die Entwicklung ist die unbewältigte Trauer in der Familie und deren Auswirkungen auf Kinder. In der Therapie ist es daher entscheiden, die traumatischen Folgen zu erkennen und zu bearbeiten, um Betroffenen zu helfen, ein gesundes Selbstbild und funktionale Beziehungsmuster zu entwickeln.

2. Ersatzkinder: die „tote Mutter“ nach André Green

André Green beschreibt in seiner Theorie der „toten Mutter“ die Erfahrung eines Kindes mit einer innerlich abwesenden, depressiv zurückgezogenen Mutter. Sie kümmert sich um das Kind, versorgt es, bleibt aber gefühlsmäßig in ihrer Trauer gefangen. (Das Geschlecht des Elternteils spielt dabei, anders als in der psychoanalytischen Perspektive, eigentlich keine Rolle. Es geht eigentlich um die emotionale Verfügbarkeit der primären Bezugsperson. In einem Alter des Kindes, in dem die Mutter nicht mehr die wichtigste Bezugsperson ist, lässt sich das auch auf den jeweils anderen Partner übertragen. Green definiert die Partnerinteraktion im Trauerfall und deren Auswirkungen auf ein Kind auf eine berechtigte, aber sehr besondere Art und Weise.)

Diese innere Abwesenheit des Elternteils und eingeschränkte emotionale Nähe bildet, was Green als „weiße Trauer“ bezeichnet. Die Folge ist eine ungewollte Form der emotionalen Vernachlässigung. Sie hinterlässt beim Kind „psychische Löcher“ anstelle des tröstenden inneren Bildes des betreffenden Elternteils, das dem Baby beispielsweise über körperliche Abwesenheit der Eltern hinweghilft. So beschädigt die „weiße Trauer“ das Urvertrauen des Kindes, mit tiefgreifenden Auswirkungen auf dessen emotionale Entwicklung.

In einer solchen familiären Konstellation erlebt das Kind bei der Mutter (oder dem betreffenden Elternteil) eine Art der inneren Leere und Abwesenheit. Für das Kind entsteht statt des verinnerlichten tröstenden Bildes ein unbewusstes Bild, dass die Mutter zwar physisch anwesend, aber emotional „tot“ zeigt. Dieses Bild kann das unerträgliche psychische Loch aber nicht füllen. Das allererste tröstende Mutterbild stellt nämlich eigentlich mit seiner unbedingten Liebe, nach der Ablösung des Babys, den Bezugsrahmen zur Verfügung, in dem das liebenswerte Selbstbild aufgebaut werden muss. Dieses „Ich“ kann im Erfolgsfall sowohl sich selbst als auch anderen mit Liebe begegnen. Wenn Kinder ein Trauma wie die „weiße Trauer“ erleben, noch bevor sie diesen Rahmen in ausreichend sicherer Form aufgebaut haben, ist das, was als „Ich“ entsteht, kein verfügbarer psychischer Raum. Obwohl die Rahmenstruktur das „Ich“ begrenzt, entsteht vielmehr ein konflikthafter Raum, in dem es nur darum geht, das mütterliche Bild festzuhalten und gegen dessen Verschwinden anzukämpfen. Erinnerungsspuren der vermissten Liebe und der Erfahrung des Verlustes tauchen abwechselnd auf – als Sehnsucht oder Empfindung einer schmerzhaften Leere.

Die Erfahrung der „gefrorenen Liebe“ und des „Fluchs“ der Erfolglosigkeit von Betroffenen, ist nicht auf eine vermeintlich aufgedrängte fremde Identität zurückzuführen, sondern auf diesen konflikthaften inneren Raum statt eines stabilen „Ichs“. Dann ist das Vertrauen in die Intimität einer Beziehung ebenso unmöglich wie in die eigene Berufswahl oder die eigenen Bedürfnisse ganz allgemein.

Die Erfahrung einer emotional unerreichbaren Bezugsperson führt so beim Kind zu einer umfassenden Schwierigkeit, sichere und stabile Bindungen aufzubauen – zu sich selbst, seiner Umwelt und zu anderen. Die Brüchigkeit der Beziehungserfahrungen bedingt eine unüberwindbare internalisierte Angst vor Zurückweisung und Verlassenheit, in jeder Beziehung.

Andererseits, in der Anstrengung, das Bild des „tote Elternteil“ mit Leben zu erfüllen, entwickelt ein Kind außerdem Strategien, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen, oft durch übermäßiges Anpassungsverhalten oder Perfektionismus. In einem Versuch, die verlorene elterliche Zuwendung zu kompensieren, kann ein Kind aber eine übersteigerte Selbstständigkeit und Unabhängigkeit aufbauen.

Greens Theorie betont, dass die Auswirkungen dieser Erfahrung tiefgreifend und langanhaltend sein können und sich nicht nur auf die Kindheit, sondern auch auf das Erwachsenenalter erstrecken. Die mit brüchigen Bildern kaum verdeckten „psychischen Löcher“ münden in anhaltenden Gefühlen der Leere, des Mangels an Selbstwert und der Schwierigkeit, emotionale Nähe zuzulassen.

3. Dynamik des Ersatzkind-Syndroms

In Partnerschaften tendieren Betroffene, die mit „toten Eltern“ großgeworden sind, dazu, Partner auszuwählen, die ihre unbewussten emotionalen Bedürfnisse widerspiegeln. Sie könnten Partner wählen, die emotional distanziert oder unerreichbar sind, und etwa das ursprüngliche Trauma der „toten Mutter“ unbewusst wiederholen. Andererseits führt ihre „Liebesunfähigkeit“ dazu, dass sie sich Nähe und Intimität fast panisch entziehen. Die Folge sind verschiedene toxische Beziehungsmuster, wie z.B. abhängigen oder co-abhängigen Beziehungen, einer Schwierigkeit, Nähe zuzulassen, oder einer Neigung zu wiederholten Trennungen und Versöhnungen.

Im Berufsleben kann sich dieses Muster in einer Überkompensation durch übermäßiges Streben nach Erfolg und Anerkennung äußern. Personen, die von „toten Eltern“ geprägt sind, können sich in die Arbeit stürzen, um das Gefühl der Leere und des Mangels an emotionaler Erfüllung zu kompensieren. Dies kann zu einem extremen Perfektionismus und einem hohen Maß an beruflicher Leistung führen, oft auf Kosten persönlicher Beziehungen und der eigenen psychischen Gesundheit. Gleichzeitig kann man sich mit einer gewählten Arbeit ebenso wenig intensiv identifizieren, wie mit einer anders gearteten Beziehung.

In beiden Fällen ist das zentrale Thema, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, echte und erfüllende emotionale Verbindungen zu anderen zu knüpfen. Ihre Beziehungen und beruflichen Bestrebungen können von einem unbewussten Versuch geprägt sein, die emotionale Leere zu füllen, die durch die Erfahrung mit den „toten Eltern“ entstanden ist. Und darum fühlen sich Beziehungen und Beruf immer wieder unbefriedigt und unerfüllt an, so als stünden die Betroffenen unter einem „Fluch“.

4. Wege aus dem Ersatzkind-Trauma

In Fällen, in denen Traumabetroffene mit einem Ersatzkind-Syndrom oder einem „Komplex der toten Mutter“, wie Green es nannte, ringen, sind Therapieformen wie die Schematherapie, die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) oder die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) oft effektiver als die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder klassische psychoanalytische Ansätze.

Schematherapie

   – Identifikation und Bearbeitung von tief verwurzelten emotionalen, gedanklichen und Verhaltensmustern (Selbstüberzeugungen), die in der Kindheit entstanden sind.

   – Arbeit an der Auflösung von dysfunktionalen Überzeugungen und Bewältigungsstilen, die die Beziehungen und das Selbstbild negativ beeinflussen.

   – Integration von Techniken zur Förderung des gesunden Erwachsenenmodus, um bessere Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)

   – Fokus auf die Entwicklung der Fähigkeit zur Mentalisierung, also der Reflexion und des Verständnisses von Gedanken und Gefühle – eigener und anderer.

   – Arbeit an der Verbesserung der emotionalen Regulation und der zwischenmenschlichen Beziehungen durch ein besseres Verständnis innerer Zustände.

   – Förderung einer sichereren Bindung und eines besseren Selbstverständnisses.

Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)

   – Schwerpunkt auf der Bewältigung von Emotionsregulationsstörungen und impulsivem Verhalten.

   – Integration von Achtsamkeitstechniken zur Verbesserung des gegenwärtigen Bewusstseins und zur Verringerung von Stress.

   – Entwicklung von Fertigkeiten in den Bereichen Stressbewältigung, Emotionsregulation, zwischenmenschliche Effektivität und Achtsamkeit.

Ziele für Ersatzkinder

Selbstfürsorge und Aufbau einer positiven Beziehung zu sich selbst

   – Entwicklung einer Routine der Selbstfürsorge und Selbstmitgefühls.

   – Einsatz von Entspannungstechniken und Aktivitäten, die das persönliche Wohlbefinden steigern.

Integration von Kreativität und emotionalem Ausdruck

   – Nutzung von Kunsttherapie oder kreativen Ausdrucksformen als Mittel zur Verarbeitung von Emotionen und Trauma.

   – Förderung des kreativen Ausdrucks als Weg zur Selbstentdeckung und emotionalen Heilung.

Durchbrechen des Wiederholungszwangs

   – Reflexion und Bearbeitung unbewusster Muster, die zu wiederholten problematischen Beziehungsdynamiken führen.

   – Psychoanalytische oder tiefenpsychologisch fundierte Ansätze können hierbei hilfreich sein.

Aufbau reifer Beziehungen

   – Fokus auf die Entwicklung gesunder Grenzen und Kommunikationsfähigkeiten.

   – Arbeit an der Fähigkeit, intime und unterstützende Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Unabhängig von gewählten Vorgehensweisen, muss eine Psychotherapie laufend überprüft und an die Bedürfnisse und Fortschritte der Betroffenen angepasst werden. Diese Flexibilität richtet die Anwendung verschiedener therapeutischer Techniken an der aktuellen Situation und Reaktion der Betroffenen aus.

5. Zusammenfassung

Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit der Vorstellung auseinander, dass nachgeborene Kinder, die ein früh verstorbenes Geschwister ersetzen, automatisch unter Identitätsstörungen leiden. Stattdessen wird André Greens Konzept der „toten Mutter“ als praxisnäherer Ansatz zur Erklärung emotionaler Belastungen in Familien, die einen Verlust erlebt haben, hervorgehoben. Der Text diskutiert verschiedene familiäre Dynamiken, die durch unverarbeitete Trauer entstehen können. Abschließend werden therapeutische Ansätze wie Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie und DBT als wirksame Methoden zur Bewältigung dieser Traumata vorgestellt.

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