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Religion und Kindheitstrauma 05: Einschluss und Ausschluss

Die Rolle der Gemeinschaft in Religionen: Zuflucht oder Kerker

Einleitung

In der Serie „Religion und Kindheitstrauma“ haben wir bisher untersucht, wie tief religiöse Überzeugungen und Praktiken in die frühe Entwicklung und das psychologische Wohlbefinden von Kindern eingreifen. Bisher ging es um:

  1. Glauben und Angst
  2. Schuld und Sühne
  3. Scham und das Heilige
  4. Autorität und Autonomie

Einschluss und Ausschluss sind dynamische Prozesse, nicht nur in Religionsgemeinschaften, die sowohl die internen Strukturen dieser Gemeinschaften als auch ihre Beziehungen zur Außenwelt beeinflussen. Diese Prozesse wirken auf mehreren Ebenen und haben weitreichende psychologische, soziale und kulturelle Auswirkungen.

Interner Einschluss und Ausschluss

  1. Identität und Zusammenhalt

Innerhalb von Religionsgemeinschaften fördert der Einschluss ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit und Identität. Mitglieder, die den Glaubensüberzeugungen und Praktiken folgen, fühlen sich oft als Teil einer größeren Einheit, geborgen und bestätigt. Gemeinsame Rituale und Überzeugungen stärken dieses Gemeinschaftsgefühl und den internen Zusammenhalt. Wenn einzelne Mitglieder oder Gruppen als nicht konform oder abweichend von den etablierten Normen angesehen werden, reagieren manche Gemeinschaften darauf mit sozialer Isolation, Abgrenzung oder sogar Ausschluss aus der Gemeinschaft.

  1. Macht und Kontrolle

In vielen religiösen Gemeinschaften wird der Zugang zu bestimmten Privilegien, Positionen oder Wissensformen reguliert. Er ist dann abhängig von der Zugehörigkeit zu einer elitären oder hierarchisch höheren Gruppe. So werden Machtstrukturen innerhalb der Gemeinschaft und die Autorität bestimmter Führungsfiguren oder Gruppen bestätigt. Auch der Ausschluss von bestimmten Aktivitäten, Ritualen oder Entscheidungsprozessen stützt Macht und Kontrolle.

Externer Einschluss und Ausschluss

  1. Interaktion mit der Außenwelt

Religionsgemeinschaften, die sich nach außen öffnen, fördern ein positives Image in der Gesellschaft. Der Einschluss außenstehender Individuen oder Gruppen baut Vorbehalte gegenüber der einladenden Gemeinschaft ab.

Andere Gemeinschaften wählen einen ausschließenden oder isolationistischen Weg, suchen wenig Interaktion mit Außenstehenden oder meiden sie sogar aktiv. Solche Gemeinschaften schüren Misstrauen gegenüber Außenstehenden und gesellschaftliche Entwicklungen. Isolierung rückt Gemeinschaften in der öffentlichen Wahrnehmung in die Nähe zu Sekten, Abgehobenheit, Feindseligkeit oder gar Rückständigkeit. Spannungen und Konflikte mit der Außenwelt oder Behörden sind oft die Folge.

  1. Isolierte Mitglieder

Wenn eine Religionsgemeinschaft ihre Anhänger gegen die Außenwelt abschottet und ihren erwachsenen Mitgliedern eine strikte Trennung von der Außenwelt auferlegt oder sie gar zu Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber Nicht-Mitgliedern ermutigt, sind Gefühle des Ausgeliefertseins, der Angst und der Unsicherheit unvermeidlich. Besonders Bedrohungen, die mit dem Kontakt zur Außenwelt verbunden sind – etwa der Ausschluss – schüren Angst bei den isolierten Mitgliedern.

Isolation in religiösen Gemeinschaften traumatisiert dabei noch auf eine zweite Art und Weise, nämlich wenn ein Individuum, vor dem Hintergrund der Abtrennung von der Außenwelt, innerhalb einer religiösen Gemeinschaft „geschnitten“ wird.

Levi-Strauss beschreibt detailliert, wie ein mit Tabu belegtes Mitglied der Gemeinschaft durch ein komplexes Ritual der sozialen Ächtung tatsächlich stirbt. So ein Individuum, das als verflucht oder von bösartigen Kräften besessen gilt, wird in der Gemeinschaft absolut ausgegrenzt und gilt als bereits verstorben oder sogar als Bedrohung für das Wohlergehen seiner Mitmenschen. Diese Isolation wird durch verschiedene Verhaltensweisen der Gemeinschaft verstärkt, z. B. durch Kontaktverweigerung und die Behandlung des isolierten Individuums als nicht existent, wodurch sein unausweichlicher Tod betont wird.

Zunächst wird das Tabu-Mitglied abrupt von familiären und sozialen Bindungen getrennt und von der Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen, die sein Selbstwertgefühl gestärkt haben. Diese drastische Trennung von den gewohnten Bezugspunkten verstärkt in der Folge die Angst des Einzelnen und verstärkt das Gefühl des drohenden Untergangs. Der plötzliche Verlust dieser Strukturen in Verbindung mit der Vertreibung aus der Gemeinschaft verstärkt die Schreckenserfahrung des Einzelnen und gipfelt in der völligen Aussichtslosigkeit. Letztlich löst dieses kollektive Verhalten einen Wahrnehmungswandel aus, bei dem der Einzelne von einem lebendigen, beitragenden Mitglied der Gesellschaft zu einem verdammten Wesen wird, das keinen Platz unter den Lebenden oder in der direkten sozialen Interaktion hat. Rituale und Praktiken der Isolation und Verurteilung setzen einen Prozess des sozialen Todes für das tabuisierte Mitglied in Gang, der zu seinem symbolischen und sozialen Untergang innerhalb der Gemeinschaft, und schließlich sogar zu seinem leiblichen Ableben führt.

Diese Beschreibung verdeutlicht die Macht von Grenzen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, wenn Individuen, die als tabu erklärt, rituell ausgestoßen und aus dem sozialen Gefüge getilgt werden.

Wer in der westlichen Welt unwiderruflich aus einer religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen wird, erlebt einen ähnlichen, totalen Verlust an sozialer Unterstützung, Zusammenhalt, Sinn und Zweck im Leben – das sogenannte Religionstrauma. Er ist dann zur vollständigen Neukonstruktion der Realität gezwungen und dabei zugleich allein auf sich gestellt, insbesondere wenn Familie und Freunde in der Religion verbleiben.

Einschluss und Ausschluss – Wurzeln

Die Dialektik von Einschluss und Ausschluss in Religionen spiegelt sich schon in den Mustern früher Mythen. Sie zeigen oft eine klare Symmetrie zwischen Gegensätzen, die sich zwar gegenseitig ausschließen, sich aber zugleich gegenseitig einschließen, um ein Ganzes zu bilden. Sie ist eng mit den symmetrischen Mustern verknüpft, die Religionssysteme zur Welterklärung heranziehen. Diese Strukturen reflektieren und verstärken die sozialen und kulturellen Dynamiken einer Gemeinschaft, indem sie Grenzen zwischen dem definieren, was innerhalb und was außerhalb dieser Grenzen liegt. Mythen prägen nicht nur Weltbilder, sondern auch normative soziale Ordnungen, die das Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft regeln.

Schöpfungsmythen: Viele Schöpfungsmythen erzählen von einer ursprünglichen Trennung des Chaos in geordnete Gegensätze, wie Himmel und Erde, Land und Meer, Licht und Dunkelheit, Ober- und Unterwelt. Dieses Auseinanderfallen anfänglich vereinter Gegensätze stellt die fundamentale Ordnung des Kosmos dar und schafft seine Struktur für alle Ewigkeit. Auch in Bezug auf den Menschen erwächst aus diesen Gegensätzen Zugehörigkeit und Einschluss (zum Beispiel in die Oberwelt oder das Land, das Leben) und Ausschluss (wie die Unterwelt oder das Meer oder Gegenden, die als gefährlich und unbewohnbar dargestellt werden).

Rituelle Übergänge: Rituale, die in Mythen beschrieben werden, beinhalten oft Elemente von Einschluss und Ausschluss, wie Initiationsriten, die den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter markieren. Die Dialektik von Einschluss und Ausschluss markiert dann individuelle Übergänge: Aufnahme in eine soziale Gruppe unter Ausschluss aus einer anderen. Diese Übergänge sind also symmetrisch strukturiert, beispielsweise durch die Phasen der Trennung von der Gemeinschaft unter Ausschluss aus der alten Gruppe, Umwandlung und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft durch Einschluss in die neue.

Die damit verbunden Rituale sind zusätzlich sowohl inklusiv, indem sie geprüften Mitglieder in die erwachsene Gemeinschaft aufnehmen, als auch exklusiv, weil sie in Geheimnisse einweihen, die anderen verschlossen bleiben. Auch ein Wandel vom Tunichtgut zum Kulturheros spielt sich im Spannungsfeld solcher Dualität ab.

Mythen bieten Erklärungen für die Entstehung der Wirklichkeit und deren Ordnung, die von symmetrischen Gegensätzen wie Tag/Nacht oder Ordnung/Chaos getragen wird. Die Symmetrie von Einschluss und Ausschluss in Mythen wurzelt in der Suche nach Ordnung und Bedeutung in der menschlichen Erfahrung und teilt darum die Wirklichkeit in verständliche, gegensätzliche Kategorien ein. Das Unverständliche wird verstehbar und gestattet dem Einzelnen ein Gefühl von Kontrolle oder Verständnis der Umwelt.

Dabei dienten Mythen und religiöse Erzählungen nicht nur Unterhaltung oder spirituelle Erbauung, sondern waren wesentliche Instrumente, um soziale Realität zu konstruieren und zu vermitteln. Die in Mythen dargestellten dualen Strukturen spiegeln die tiefsten Werte und Ängste einer Gesellschaft wider. Indem sie zeigen, was akzeptabel ist (Einschluss) und was verboten ist (Ausschluss), leiten sie das Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder und stärken die kulturelle Identität. Diese Definitionen sind nicht nur abstrakt, sondern schlagen sich in Ritualen, Gesetzen und sozialen Normen im täglichen Leben der Gemeinschaft nieder.

Die Darstellung idealisierter Verhaltensweisen und der Konsequenzen von Nonkonformität bietet Modelle für erwünschtes Verhalten und warnt vor den Folgen von Tabubrüchen. So verstehen und akzeptieren Einzelne ihre Rolle innerhalb der Gemeinschaft. Die symmetrischen Muster in Mythen verstärken somit soziale Ordnung. Durch das Erzählen von Geschichten, die klare Gegensätze und komplementäre Beziehungen aufzeigen, werden soziale Hierarchien und Rollen sowohl gerechtfertigt als auch fortgeschrieben.

Insgesamt ist die Dialektik von Einschluss und Ausschluss in der Mythenstruktur Grundlage sowohl der individuellen als auch der kollektiven Identität. Grenzen, sei es durch räumliche, soziale oder moralische Kategorien, ermöglichen den Gemeinschaften, ihren Zusammenhalt zu stärken und gleichzeitig das Fremde oder Andere zu definieren und oft auch abzuwehren.

Sangha im Buddhismus

Die Sangha ist eine Gemeinschaft von spirituellen Praktizierenden im Buddhismus, die zusammenkommt, um einander zu unterstützen, zu lehren und zu praktizieren. Die Sangha ermöglicht Praktizierenden, gemeinsam zu meditieren, Achtsamkeit auszuüben und den Weg des Buddhismus zu praktizieren. Sie gehört zu den drei Juwelen (Vorbildern) des Buddhismus: der Buddha (als der Lehrer), das Dharma (als die Lehre) und die Sangha (als die Gemeinschaft der Gläubigen), durch deren Annahme man den Buddhismus annimmt.

Die Sangha im Buddhismus stellt also eine inklusive spirituelle Gemeinschaft dar, die persönliches Wachstum fördert. Diese Struktur der Sangha kann Gemeinschaft ohne Isolation der Mitglieder oder Abgrenzung gegen die Gesellschaft aufrechterhalten, indem sie Prinzipien wie die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad als Weg zur Erleuchtung lehrt.

Darüber hinaus stiftet die Sangha durch buddhistische Meditationstechniken die tiefe Verbindung und Einheit unter den Mitgliedern. Durch die gemeinsame Praxis und das Teilen von Erfahrungen schaffen die Mitglieder der Sangha ein unterstützendes und liebevolles Umfeld, das persönliches Wachstum ermöglicht, ohne Isolation innerhalb der Gemeinschaft oder nach außen zu sein. Im Gegenteil, die auf Erlösung aller Lebewesen gerichteten, humanistischen Werte wie Mitgefühl, Toleranz und Respekt prägen die Beziehungen nach innen und nach außen – als Brücken zu anderen Gemeinschaften und zur Gesellschaft insgesamt.

Monotheismus

Der Monotheismus war mit seinem Aufkommen zur Abgrenzung gegen die älteren Religionen seiner Ursprungsregion gezwungen.

Es wird diskutiert, ob der Aton-Kult während der Herrschaft des ägyptischen Pharaos Echnaton (ca. 1353–1336 v. Chr.) wirklich ein Fall von Monotheismus war. Er stellte die Verehrung von Aton, der Sonnenscheibe, über alle anderen Götter. Das bedeutete eine radikale Abkehr von der traditionellen ägyptischen polytheistischen Religion, wäre aber eher eine Form der Monolatrie, d. h. die alten Götter blieben auf ihrem Platz, verehrt wurde aber nur Aton. Nach Echnatons Tod wurden seine Reformen ohnehin wieder rückgängig gemacht, und Ägypten kehrte zu seinen traditionellen Göttern zurück.

Eine der frühesten und bedeutendsten Wandlungen zum Monotheismus vollzog sich im Kontext der altisraelitischen Religion. Ursprünglich praktizierten auch die alten Israeliten eine Form der Monolatrie und verehrten Jahwe, als ihren Nationalgott. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dieser Glaube zu einem strikten Monotheismus, vor allem während und nach dem babylonischen Exil (6. Jahrhundert v. Chr.), in dem Jahwe nicht nur als einziger Gott Israels, sondern als der einzige Gott überhaupt angesehen wurde.

Die Entwicklung des Christentums und des Islams spielte danach eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Monotheismus. Das Christentum übernahm und adaptierte den israelitischen monotheistischen Glauben und wurde zu einer dominierenden Religion im Römischen Reich und später in Europa. Der Islam, der im 7. Jahrhundert n. Chr. vom Propheten Mohammed gegründet wurde, betonte die Einheit Gottes (Allah) und verbreitete sich rasch in Teilen Asiens, Afrikas und später in Europa.

Die Hinwendung zum Monotheismus in vielen Kulturen wurde auch durch philosophische und theologische Überlegungen beeinflusst. Die Vorstellung eines einzigen, ultimativen Prinzips oder Gottes bot oft eine einfachere und philosophisch kohärentere Erklärung des Universums, seiner Ursprünge und seiner Ordnung. Dieser Ausschluss der älteren polytheistischen oder totemistischen Glaubenssysteme der Stämme führte zu einem starken Isolationismus innerhalb der neuen monotheistischen Gemeinschaften. Daher zeigten die abrahamitischen Religionen – Christentum, Judentum und Islam – historisch gesehen, eine starke Tendenz zum isolationistischen Group-Think nach innen und nach außen.

Scharfe Abgrenzung hat aber auch innerhalb der monotheistischen Gemeinschaften Schismen und der Bildung von Sekten geführt, in denen sich Gruppen von der gesamten Religionsgemeinschaft abgespalten haben, sei es aufgrund unterschiedlicher Auslegungen ethischer Prinzipien, ritueller Praktiken oder theologischer Deutungen.

Zahlreich waren in der Geschichte andererseits Strömungen und Interpretationen, die sich um eine Vermittlung zwischen den monotheistischen Glaubenssystemen bemüht haben: etwa zwischen der Ostkirche und der Westkirche sowie zwischen Christen und Muslimen.

Ein berühmtes Beispiel ist der Dialog zwischen Franz von Assisi mit dem Sultan Al Malik Al Kamil in Damiette, schon im 13. Jahrhundert während des Fünften Kreuzzugs. Obwohl auch dieser Dialog letztlich scheiterte, gilt er als die vielleicht bis heute wichtigste interreligiöse Begegnung überhaupt. Schon historische Quellen sprachen davon, dass die Begegnung der beiden Männer von gegenseitigem Respekt geprägt gewesen sei, obwohl sie keine „Bekehrung“ in einem wie auch immer gearteten Sinn hervorgerufen habe, wie aus verschiedenen Beiträgen auf der Konferenz hervorgeht. Der Sultan soll den Christen aus Assisi in allen Ehren empfangen und ihm gerne zugehört haben. Aber, obwohl der Sultan von Franziskus‘ Persönlichkeit beeindruckt gewesen sei, hätten beide Gesprächsteilnehmer ihrer Position die Treue bewahrt. Immerhin aber haben beide mit ihrem Treffen gezeigt, dass es, über konfessionelle Grenzen hinaus möglich ist, sich brüderlich zu begegnen.

Psychologische Auswirkungen auf Kinder

Für Kinder kann das Spannungsfeld zwischen Einschluss und Ausschluss in Religionsgemeinschaften zur Quelle schwerwiegender emotionaler und psychologischer Traumata werden. Es beeinflusst die Entwicklung der Kinder in vielfältiger Weise, von der Formung ihrer sozialen Identität hin zu ihrem Verständnis von Sicherheit und Akzeptanz innerhalb ihrer Gemeinschaft.

1. Unsicheres Zugehörigkeitsgefühl

Kinder, die in einer Umgebung aufwachsen, in der streng zwischen „dazugehörig“ und „nicht dazugehörig“ unterschieden wird, können, aus Selbstzweifeln heraus, ein tiefgreifendes Gefühl der Unsicherheit über ihre Zugehörigkeit entwickeln.

2. Gespaltene Selbstwahrnehmung

Sie stehen oft vor dem Dilemma, ihre persönliche Identität mit der Gruppenidentität in Einklang zu bringen. Dies kann besonders problematisch sein, wenn die Selbstwahrnehmung, das Verhalten oder die persönlichen Überzeugungen oder Eigenschaften der Kinder in Widerspruch zu den Normen der Gemeinschaft geraten. Solche Konflikte können zu inneren Spannungen, Identitätskrisen und in extremen Fällen zu dissoziativen Störungen führen.

2. Angst vor Strafe und Isolation

In solchen Religionsgemeinschaften haben Kinder darum ständige Angst vor Bestrafung und Verlassenwerden, wegen ihrer Verfehlungen und vermeintlichen Schlechtigkeit.

3. Entwertende Selbstsicht

Kinder, die dann erleben, dass andere wegen vermeintlicher Verstöße oder Normabweichungen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, geraten in tiefe Angst, wenn sie merken, dass sie den Normen nie lückenlos genügen können, während sie glauben, dass sie nur wertvoll oder liebenswert sind, wenn sie den strikten Vorgaben genügen. Sie erleben tiefe Scham und können kein Selbstvertrauen aufbauen. In einigen Fällen kann es sogar zu selbstzerstörerischem Verhalten kommen.

4. Beeinträchtigung der sozialen Entwicklung

Kinder benötigen vielfältige soziale Interaktionen, um gesunde zwischenmenschliche Fähigkeiten zu entwickeln. Eine Umgebung, die durch strikte Grenzen zwischen „innen“ und „außen“ geprägt ist, schränkt diese soziale Entwicklung ein und verwehrt Kindern den Zugang zu unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen.

5. Trauma durch physische und emotionale Strafen

In manchen religiösen Gemeinschaften gibt es Strafen durch körperliche Züchtigungen oder emotionale Grausamkeit. Solche Erfahrungen können direkte Traumata verursachen, mit zu langfristigen psychischen Folgen wie posttraumatischer Belastungsstörung (cPTSD), Angststörungen und Depressionen.

Therapeutische Ansätze

Die Behandlung und Unterstützung betroffener Erwachsener, die im Kindesalter durch Ausgrenzung und Isolation in ihrer Glaubensgemeinschaft traumatisiert wurden, erfordert verschiedene Methoden. Dafür muss die therapeutische Beziehung einen geschützten Raum für korrigierende Erfahrungen bereitstellen.

Es ist wichtig, zusätzliche Unterstützungssysteme mit Partnern, Familienmitgliedern und anderen Freunden aufzubauen, die eine Neuorientierung ermöglichen.

Unterschiedliche Therapiemethoden helfen dysfunktionale Denkmuster und emotionale Dysregulation zu erkennen und zu überwinden, um die Belastung durch posttraumatische Symptome zu reduzieren. Durch die Bearbeitung von negativen Grundüberzeugungen können Betroffene positive emotionale Erfahrungen machen und eine Korrektur ihrer emotionalen Kernschemata erreichen.

Übungen zur Selbsthilfe

Grounding und Atemtechniken sind unverzichtbar.

Ein kognitiver Neuaufbau erfordert außerdem guten Kontakt mit dem inneren Kind und einen souveränen Umgang mit dem inneren Kritiker. Entsprechende Techniken sind in anderen Posts auf dieser Seite beschrieben worden.

Im Zusammenhang mit Isolation soll hier zudem noch einmal das schon in anderen Beiträgen erwähnte Selbstmanagement hervorgehoben werden, das auf Verhaltenssteuerung und -veränderung abzielt, mit Methoden wie Selbstbeobachtung, Selbstverstärkung, Gedankenstopp, verdecktes Lernen, Impulskontrolle und auch Selbstverträgen.

  1. Selbstinstruktionstraining

Besonders ist hier das Selbstinstruktionstraining als Methode zur Verbesserung der Selbststeuerung zu empfehlen, bei dem die Betroffenen Anweisungen an sich selbst nutzen, um ihre Handlungen selbst zu lenken.

Übung: Gedankenstopp

Diese Übung hilft Ihnen, negative oder unproduktive Gedankenmuster zu unterbrechen und in eine positivere Richtung zu lenken.

Schritte der Übung:

  • Vorbereitung: Identifizieren Sie ein spezifisches negatives Denkmuster, das Sie ändern möchten (etwa selbstkritische Gedanken wie „Ich kann das nicht“).
  • Stopp-Signal: Sobald Sie bemerken, dass der negative Gedanke aufkommt, sagen Sie, anfangs laut, später innerlich, deutlich „Stopp!“ Dies dient als Signal, das den automatischen Ablauf des Gedankens unterbricht.
  • Umleitung: Leiten Sie den Gedanken sofort in eine konstruktive oder bestärkende Richtung um. Ersetzen Sie den negativen Gedanken durch eine positive Selbstinstruktion oder Frage, die zur Problemlösung anregt (zum Beispiel „Was ist der erste Schritt, um diese Aufgabe zu bewältigen?“). Diese Technik lässt sich mit der Bilateralen Stimulation (Schmetterlingsumarmung) und Sicherer-Ort-Vorstellungsübung zur Angststeuerung verbinden.
  • Wiederholung: Üben Sie diese Technik regelmäßig. Je öfter Sie das Stopp-Signal und die Umleitung anwenden, desto automatischer wird dieser Prozess.
  1. Achtsamkeitsübung zur positiven Selbstzuwendung

Unbedingt wichtig ist bei alldem eine positive Selbstzuwendung als Grundlage zur Selbstfürsorge, bei der Betroffene lernen müssen, ihre Bedürfnisse aufzuspüren und sich zu gestatten, sie zu erfüllen, also achtsam mit sich selbst umzugehen. So gelingt es, Muster zu erkennen, zu prüfen und sie gegebenenfalls zu verändern.

Übung: Achtsames Atmen mit Selbstmitgefühl

Diese Übung kombiniert Achtsamkeit mit einem Fokus auf Selbstmitgefühl, um eine tiefere positive Selbstzuwendung zu fördern.

Schritte:

  • Vorbereitung: Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie für einige Minuten ungestört sein können.
  • Achtsames Atmen: Schließen Sie die Augen und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Atmung. Spüren Sie, wie die Luft ein- und ausströmt. Beobachten Sie, wie Ihr Körper sich mit jedem Atemzug leicht hebt und senkt.
  • Selbstmitgefühl einführen: Während Sie atmen, denken Sie an eine Situation, die Ihnen zuletzt Schwierigkeiten bereitet hat. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich selbst Trost und Verständnis zusprechen, so als würden Sie zu einem engen Freund sprechen. Nutzen Sie dabei Sätze wie: „Es ist okay“, oder: „Ich gebe mein Bestes.“

Integrieren Sie solche Übungen in Ihren Alltag. Ein paar Minuten täglich können schon eine große Veränderung bewirken.

Fazit

Dieser Post in der Serie „Religion und Kindheitstrauma“ hat verdeutlicht, wie tiefgreifend die Dynamik von Einschluss und Ausschluss innerhalb religiöser Gemeinschaften die individuelle und soziale Identität von Kindern prägt.

Mythenstrukturen und rituellen Praktiken, die diese Prozesse umrahmen, erklären, warum die Dialektik von Einschluss und Ausschluss bei der Formung von Verhaltensnormen und sozialen Erwartungen eine derartige Rolle in Religionsgemeinschaften zu spielen vermag. Die Symmetrie ihrer Strukturen spiegelt die Suche nach Ordnung und Bedeutung, die seit Beginn der Menschheitsgeschichte sowohl einschließende als auch ausschließende Kräfte innerhalb der Gemeinschaften stärkt.

Das Verständnis dieser dynamischen Prozesse ist für religiöse Gemeinschaften und die Gesellschaft insgesamt von zentraler Bedeutung. Es ermöglicht eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Werten und Praktiken, die nicht nur das Individuum, sondern auch das kollektive Zusammenleben formen.

Für den Umgang mit Kindern ist eine sensible Herangehensweise entscheidend. Religiöse Gemeinschaften stehen vor der Herausforderung, eine Balance zu finden, die sowohl die Werte der Gemeinschaft bewahrt als auch die psychologische Gesundheit und Entwicklung der Kinder schützt. Kinder müssen aufwachsen in Sicherheit, Akzeptanz und mit der Freiheit, ihre Umgebung zu entdecken und zu hinterfragen, ohne Angst vor Ausschluss oder Strafe.

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